Politik
100.000 demonstrieren in Berlin - Kritik am Kapitalismus im Zentrum der Diskussion
16.05.09 - Rund 100.000 Menschen haben heute nach DGB-Angaben an der bundesweiten Demonstration in Berlin gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die breiten Massen und insbesondere die Arbeiter und ihre Jugend demonstriert. Es waren Arbeiter und Gewerkschafter, ein hoher Anteil von Jugendlichen und Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsbereichen. Von zwei Auftaktkundgebungen am Berliner Hauptbahnhof und am Breitscheidplatz marschierten sie zur Abschlusskundgebung an der Siegessäule. Die Stimmung war selbstbewusst und begeisternd, man spürte die organisierte Kraft.
Die Demonstration in Berlin war Bestandteil eines europaweiten Aktionstags, zu dem der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) aufgerufen hatte. Zeitgleich gingen heute in Prag 20.000 Teilnehmer auf die Straße. In Brüssel protestierten gestern rund 50.000 und am Donnerstag hatte es bereits Demonstrationen in Madrid mit 150.000 sowie in Bukarest mit 7.000 Beteiligten gegeben. In der rumänischen Hauptstadt riefen die Demonstranten: "Diebe!" und "Ihr solltet euch schämen!" An allen fünf Demonstrationen nahmen auch Gewerkschafter aus benachbarten Ländern teil. Vor ein paar Tagen hatte der EGB noch erklärt, er erwarte insgesamt bis zu 200.000 Teilnehmer an den Protesten, tatsächlich waren es nun rund 320.000.
In Berlin gab es kämpferische, stimmungsreiche Blöcke unter anderem von der Verdi- und der IG-Metall-Jugend. Auch ein Block Milchbäuerinnen hatte sich der Demonstration angeschlossen. "Arbeiter und Bauern gemeinsam gegen diese Krisenpolitik", war ihr Anliegen. Unübersehbar betriebliche Initiativen, wie von den Opel-Kollegen, den Stahlarbeitern unter anderem aus Eisenhüttenstadt, von Leiharbeitern bei VW oder Bergarbeitern aus dem Ruhrpott.
Auch an der Berliner Demonstration beteiligten sich Gewerkschafter aus benachbarten Ländern, italienische und polnische Kollegen sah man ebenso wie Gewerkschafter aus der Schweiz, den Niederlanden usw. Zahlreiche Migranten-Organisationen waren dabei. "Hoch die internationale Solidarität" war eine gelebte Losung. Zahlreiche offene Mikrofone verschiedener Montagsdemos oder der MLPD wurden reichlich genutzt - insbesondere für grundsätzliche Auseinandersetzungen.
Im Zentrum der Kritik stand der Kapitalismus - wie bei keiner anderen Massendemonstration dieses Ausmaßes in den letzten Jahren. Über das Verständnis dieser Kritik und die Alternativen tobt noch die Auseinandersetzung. Auffällig viele, die von der Notwendigkeit einer grundlegend anderen Gesellschaft ausgehen. "Ich bin reif für eine andere Gesellschaft", war eine weitverbreitete Losung der Verdi-Jugend. Die MLPD war unübersehbar und warb für den echten Sozialismus. "Ihr seid ja überall", so ein Kollege durchaus anerkennend zu "Rote Fahne"-Verkäufern.
Hunderte unterschrieben schon in den Sonderzügen und -bussen auf der Hinfahrt für die Zulassung der MLPD zu den Bundestagswahlen. Um eine wirklich gründliche Aufarbeitung der Krisenursachen ging es der MLPD. Sie verkaufte das Buch von Stefan Engel "Götterdämmerung über der 'neuen Weltordnung'" heute
zu einem Sonderpreis von 10 Euro, was auf reges Interesse stieß.
Auffällig war darüber hinaus in den Zügen und an den Ständen ein großes
Interesse an grundsätzlicher Literatur.
Soviel sozialistische Alternative ließ bei einigen DGB-Funktionären offenbar die Alarmglocken läuten. Bei der Auftaktkundgebung am Breitscheidplatz wurde ein MLPD-Infostand von gemieteten DGB-Ordnern gewaltsam zerstört. Bei der Abschlusskundgebung forderte der DGB-Verantwortliche Andrew Walde ebenfalls den Abbau aller politischen Infostände. Der Infostand der MLPD wurde nach Stunden von der Polizei sorgsam abgebaut, dann aber mit Stehtischen und vollem Einsatz weiter geführt. Proteste dagegen gab es von allen, die das mitbekamen. Selbst einigen Beamten der Polizei war dieses undemokratische Vorgehen der DGB-Spitze sichtlich peinlich. Die Linkspartei hatte zuvor ihren Info-Stand freiwillig abgeräumt.
Auf der Abschlusskundgebung sprachen unter anderem der DGB-Vorsitzende Michael Sommer (SPD), der Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber (SPD), Verdi-Chef Frank Bsirske (Grüne) und IG-BAU-Chef Klaus Wiesehügel (SPD). Soviel zum Auftreten politischer Parteien. Außerdem der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds, John Monks, und Agnes Jongerius vom niederländischen Gewerkschaftsbund FNV. Den größten Beifall bekamen diese internationalen Redner, aber auch Aussagen in den Reden, die den internationalen Charakter des heutigen Aktionstags betonten.
Frank Bsirske und Klaus Wiesehügel hielten zum Teil kämpferische Reden und brachten wichtige Forderungen zum Ausdruck, wie nach Mindestlöhnen, zur Abschaffung der Rente mit 67 und gegen Hartz IV bzw. für längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Auffällig war aber, dass in den Reden auf Aufrufe, Mobilisierung oder Schlussfolgerungen für den weiteren Kampf zur Durchsetzung der Forderungen keine Rede war. Auch eine Kritik an der SPD, die für die Niedriglöhne der letzten Jahre maßgeblich verantwortlich zeichnet, unterblieb von diesen Rednern.
Eine starke Gruppe unter den DGB-Spitzenfunktionären sieht es offenbar als vornehmste Aufgabe, die Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative in die Bahn einer angeblichen Reformierbarkeit des Kapitalismus zu lenken. So forderte der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber eine Entschuldigung der Krisenverursacher. Das wäre eine "Frage von Moral und Anstand". Viele verließen die Kundgebung, als er auch noch einen "Untersuchungsausschuss über die Krisenursachen" forderte. Was für ein Trost für Hundertausende von Arbeitslosigkeit und Armut betroffene und bedrohte Familien.
Metaller aus verschiedenen Regionen - insbesondere aus den großen Industriebetrieben - kritisierten, dass die IG Metall in ihren Betrieben zu wenig mobilisiert hatte. Dieser Tag steht für den eingeleiteten Stimmungsumschwung unter den Arbeitern und eine Massendiskussion über den weiteren Weg des Kampfes gegen die Abwälzung der Krisenlasten und die Zukunft der gesellschaflichen Entwicklung.