Politik

Neuer Koalitionsvertrag: Wattepackung für den Übergang zum verschärften Krisenprogramm

25.10.09 - Gestern stimmten die Fraktionen der zukünftigen Regierung aus CDU, CSU und FDP dem bis zuletzt unter heftigem Streit ausgehandelten Koalitionsvertrag zu. Anschließend wurde er von den drei Parteivorsitzenden Angela Merkel CDU), Guido Westerwelle (FDP) und Horst Seehofer (CSU) als "Aufbruch in eine neue Ära" präsentiert. Ohne allzu konkret zu werden, stimmte Kanzlerin Merkel schon mal auf "langfristige Veränderungen der Gesellschaft" ein, "damit wir das 21. Jahrhundert bewältigen können". Dies sei notwendig als Antwort auf die Krise, die "einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik" sei. Vor den Wahlen wurde die Weltwirtschaftskrise von den Regierungspolitikern noch kräftig herunter gespielt, ihr "baldiges Ende" verkündet usw.

Der geplante Übergang zu einem verschärften Krisenprogramm soll allerdings stufenweise erfolgen und wird mit allerlei Versprechungen und kleineren Zugeständnissen in Watte gepackt. Von Verschärfungen bei Hartz IV und beim Kündigungsschutz ist zumindest vorläufig keine Rede, Steuererhöhungen werden für die kommende Legislaturperiode "ausgeschlossen". Statt dessen soll es Steuerentlastungen in Höhe von 14 Milliarden Euro bis Ende 2010 und weiteren 24 Milliarden Euro jährlich bis 2013 geben.

Konkret beschlossen ist dazu aber nur eine geringe Erhöhung des Steuerfreibetrags für Kinder und des Kindergelds, eine Senkung der Erbschaftssteuer und ein "Sofortprogramm" zur "Korrektur" der Unternehmensteuerreform. Dieses wird vor allem den internationalen Monopolen Vergünstigungen bringen, indem bisher noch bestehende Verlust- und Zinsabzugsbeschränkungen entschärft werden. Kommen soll bis 1.1.2011 ein Stufentarif bei der Einkommensteuer, der die CDU im Wahlkampf 2005 in Form des "Kirchhof-Modells" schon einmal Stimmen gekostet hat. Was als "Beseitigung fundamentaler Ungerechtigkeiten des Steuersystems" verkauft wird, bringt vor allem Steuersenkungen für Spitzenverdiener. "Mittelfristig" ist eine umfassende "Reform" des Unternehmensteuerrechts geplant.

Während die Heraufsetzung des Schonvermögens und der Zuverdienstgrenzen für ALG-II-Empfänger (siehe "rf-news"-Artikel) groß herausgestellt wird, bleiben die geplanten Verschärfungen bei den Sozialversicherungen bewusst nebulös. Tatsächlich bedeutet das Einfrieren des Unternehmerbeitrags zur Krankenversicherung und die Einführung einer - für weitere Erhöhungen offenen - Pauschalprämie für die Arbeiter und Angestellten die vollständige Zerschlagung der bereits eingeschränkten "Parität" bei der Beitragszahlung. Das gleiche gilt für die geplante Verpflichtung zu privaten Zusatzversicherungen in der Pflegeversicherung. Bis 2011 soll eine Regierungskommission Vorschläge für eine noch weitergehende "Umgestaltung des Gesundheitssystems" machen.

Der Koalitionsvertrag ist Ausdruck der Labilität und politischen Defensive, in der die neue Regierung von Anfang an steckt. Aus Furcht vor einer Entfaltung von Massenkämpfen sowie wachsendem Einfluss der MLPD, und um die Gewerkschaften möglichst wenig zu provozieren, setzt sie die bisherige Dämpfungspolitik zumindest teilweise fort. Dafür soll der Schuldenberg weiter gesteigert werden, unter anderem durch das Konstrukt eines "Sondervermögens" im Haushalt 2011.

Finanzpolitisch ist der Koalitionsvertrag weitgehend auf die Erwartung eines baldigen "Wirtschaftswachstums" gebaut, das durch verschiedene Maßnahmen "angestoßen" werden soll. "100.000 Arbeitslose weniger haben eine Entlastungswirkung von etwa zwei Milliarden Euro im Haushalt und den Sozialkassen", verkündete die Kanzlerin. Fragt sich nur, woher die wundersame Reduzierung der Arbeitslosigkeit angesichts zunehmender Firmenzusammenbrüche und angekündigter Massenentlassungen kommen soll. Gelinge dies nicht, werde es "sehr schwierig", räumte Merkel schon mal ein. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die gewaltige Staatsverschuldung auf dem Rücken der Massen abgewälzt werden muss.

Unternehmerverbands-Chef Dieter Hundt (BDA) begrüßte vor allem "den Einstieg in die Entkopplung der Kosten für Gesundheit und Pflege vom Arbeitsverhältnis" und den Verzicht auf gesetzliche Mindestlöhne, monierte aber fehlende "weitergehende Schritte zur Flexibilisierung des Arbeitsrechts". Wachsende Proteste wird neben den Plänen zur Kranken- und Pflegeversicherung sicher auch die nun festgeschriebene Verlängerung der Laufzeit für Atomkraftwerke herausfordern.

Über den Koalitionsvertrag werden heute und morgen noch Sonderparteitage der Regierungsparteien abstimmen, für Montagabend ist die offizielle Unterzeichnung geplant und am Mittwoch soll das neue Kabinett vereidigt werden.

SPD-Chef Frank-Walter Steinmeier warf der neuen Regierung scheinheilig vor, "den Menschen ... bittere Wahrheiten vorzuenthalten" und sie über ihre "wahren Pläne" zu täuschen". Die Leute haben aber nicht vergessen, mit welch großartigen wie illusionären Versprechungen die SPD vor den Wahlen über ihre tatsächlichen Pläne hinwegtäuschte. Dass sie ihr dies nach all den Erfahrungen der letzten 11 Jahre nicht mehr abkaufen, war einer der hauptsächlichen Gründe für ihre hohen Wahlverluste.

Die richtige Konsequenz haben unter anderem die bis zu 3.500 Teilnehmer der gestrigen Demonstration gegen die neue Regierung in Berlin gezogen, die ihr dort eine "Begrüßung der besonderen Art" bereiteten (siehe "rf-news"-Bericht). Die Herbstdemonstration war gekennzeichnet von einer neuen Qualität sowohl der bewussten und kompetenten Kampfansage an die neue Regierungspolitik als auch der Breite ihrer Zusammensetzung, neuer Beziehungen und Bündnispartner, die Ergebnis einer jahrelangen Arbeit sind. Damit erweist sich die kämpferische Opposition gut gerüstet für die Auseinandersetzung mit der Merkel/Westerwelle-Regierung.