Politik

Warum sich die neue Regierung schon wieder über ihre Pläne zur Kranken- und Pflegeversicherung streitet

27.10.09 - Kaum ist die Tinte unter dem Koalitionsvertrag trocken, gibt es zwischen den "Partnern" der neuen Regierung handfesten Zoff. Jeder behauptet, er hätte etwas anderes unterschrieben. Während der bisherige CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla behauptet, es gehe allenfalls darum, das Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung zu "optimieren", sprechen FDP-Politiker wie der designierte Gesundheitsminister Philipp Rösler von einem geplanten "Systemwechsel".

Tatsächlich sind die weitestgehenden Angriffe der neuen Regierung im Gesundheits- und Pflegebereich geplant. Wenn sie durchkommen, hätte das auch bei uns "amerikanische Verhältnisse" zur Folge, wo schon jetzt 46 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung leben und viele sich weder Arzt noch Krankenhausbehandlung leisten können. In einem Nebensatz versteckt, enthält der Koalitionsvertrag die knallharte Festlegung, dass die Gesundheitskosten von den "Lohnnebenkosten entkoppelt" werden und die Unternehmerbeiträge deshalb "fest" bleiben sollen. 

Das bedeutet nichts anderes als die vollständige Zerschlagung des Systems der paritätischen Beitragszahlung, das eine der Säulen des staatlichen Sozialwesens der Bundesrepublik Deutschland seit dem II. Weltkrieg war. Jeder Versuch dazu rief bisher heftigste Auseinandersetzungen mit der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und den Sozialverbänden hervor. Nur gegen massiven Widerstand war es gelungen, diese Parität schrittweise aufzuweichen, so dass derzeit die Unternehmer 7 Prozent, die Arbeiter und Angestellten aber 7,9 Prozent in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen.

Begründet werden die Koalitionspläne mit den zu erwartenden Kostensteigerungen im Gesundheitswesen. Während dies den Unternehmern angeblich nicht "zugemutet" werden kann, kostet es Merkel und Westerwelle keine Träne, diese steigenden Kosten - an denen vor allem die Pharmakonzerne prächtig verdienen - allein den arbeitenden Menschen aufzubürden, die ohnehin immer weniger Geld zum Leben haben.

Um diese vollständige Abwälzung der Gesundheitskosten auf die Arbeiter und Angestellten zu ermöglichen, werden die Versichertenbeiträge nach den Plänen der Regierung künftig nach oben offen sein. Was sie als "einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge" umschreiben, heißt nichts anderes, als dass deren Beiträge noch schneller als die Bruttolöhne steigen sollen. Ob in Form einer für alle Versicherten gleichen "Kopfpauschale" oder gestaffelter Zusatzbeiträge, ist zwischen den Koalitionspartnern noch umstritten.  

Der "Systemwechsel" wird jedoch nur funktionieren, wenn diese "Kopfpauschale" oder der Zusatzbeitrag Jahr für Jahr weiter steigen wird. Das Ritual der Entdeckung immer neuer "Löcher" in den Sozialkassen, das zur Rechtfertigung herhalten muss, kennen wir schon aus der Vergangenheit.

Zwar soll es einen "sozialen Ausgleich" für Geringverdienende aus Steuergeldern geben. Auch der wird aber nicht von den Kapitalisten bezahlt, sondern - nur auf Umwegen - wieder von der Masse der Arbeiter und Angestellten. Gleichzeitig wird der "Systemwechsel" in der Krankenversicherung damit einher gehen, die Leistungen der Krankenkassen noch weiter einzuschränken, wenn man sich keine "Extras" gegen entsprechende Zuzahlungen leisten kann.

Auch bei der Pflegeversicherung plant die neue Koalition eine "Ergänzung durch Kapitaldeckung", sprich private Zusatz-Pflichtbeiträge, die in Kapitalfonds angelegt werden. Wie schnell solcherlei Angespartes durch eine Finanzkrise wertlos werden kann, bewies die jüngste Entwicklung. 

Die Pläne im Gesundheits- und Pflegebereich bergen erheblichen Sprengstoff für die Regierung. Schon zweimal waren Angriffe auf soziale Errungenschaften der Arbeiterbewegung der Anfang vom Ende einer Bundesregierung: zum ersten Mal, als die Kohl-Regierung 1996 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall beschneiden wollte; das zweite Mal, als die Schröder-Regierung 2004/2005 die bisherige Arbeitslosenversicherung durch Hartz IV für Langzeitarbeitslose ersetzte. Kein Wunder, dass sich die Spitzenpolitiker der neuen Regierung alles andere als sicher sind, wie sie dieses "heiße Eisen" anpacken sollen.