Wirtschaft
Deutschland Schlusslicht bei Lohnentwicklung in Europa - offensive Lohnforderungen auf der Tagesordnung
09.09.10 - Gestern veröffentlichte das Statistische Bundesamt Berechnungen, nach denen in keinem anderen Land der EU die Bruttolöhne in den letzten Jahren so langsam gestiegen sind wie in Deutschland. Seit 2000 um 21,8 Prozent, im Durchschnitt der EU dagegen um 35,5 Prozent. Im letzten Jahr stiegen die Bruttolöhne in Deutschland sogar nur noch um 0,5 Prozent. Unter Berücksichtigung der Inflationsrate sind damit die Reallöhne innerhalb der letzten zehn Jahre deutlich gesunken. Zugleich nahm die Produktivität der Arbeit um mehr als 20 Prozent zu. D.h. was ein Industriearbeiter im Jahr 2000 in einer Stunde erarbeitet hat, wird heute in ca. 48 Minuten hergestellt. Der Arbeitsdruck ist kaum mehr erträglich und führt zu wachsendem Unmut in den Betrieben.
Die Ursachen der gesunkenen Reallöhne liegen nach Analysen des DGB zum einen in der Streichung übertariflicher Zulagen, vor allem aber "in der skandalösen Ausweitung eines Niedriglohnsektors durch prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit". Die zurzeit anlaufende Stahltarifrunde bekommt daher durch die Forderung nach gleicher Bezahlung und gleichen Bedingungen für Leiharbeiter große Bedeutung. Das ist ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung der Belegschaften in Stammbelegschaft und Leiharbeiter und des damit verbundenen Lohndumpings.
Interessant ist, wer sich in den letzten Wochen so alles in die Reihe der angeblichen Befürworter "kräftiger" Lohnerhöhungen einreiht. Gestern sprach sich auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen dafür aus - offenbar in Sorge wegen des zunehmenden Unmuts in den Betrieben. Was sie darunter versteht, dürfte sich aber von den Vorstellungen der meisten Arbeiter und Angestellten deutlich unterscheiden. So hält etwa der "Wirtschaftsweise" Prof. Peter Bofinger, der ebenfalls "spürbare" Lohnerhöhungen unterstützt, "drei Prozent Lohnzuwachs" für "eine vernünftige Marke".
Damit können sich aber die Beschäftigten keineswegs zufrieden geben. Lohn- und Gehaltsforderungen müssen sich an dem orientieren, was die Arbeiter und ihre Familien zum Leben brauchen, und nicht an einer "Stärkung der Binnennachfrage". Die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Wirtschaft kann damit ohnehin nicht beeinflusst oder gar abgeschafft werden.
Die Stahlarbeiter fordern zu Recht 6 Prozent mehr Lohn. Auch die IG Metall will die zum 1. April 2011 vereinbarte Lohnerhöhung von 2,7 Prozent auf den Februar vorziehen. Das ist sicher sinnvoll, aber nicht ausreichend. Notwendig wäre ein deutlicher Lohnnachschlag jetzt und zwar für alle Branchen. Und die verschiedenen wirtschaftlichen Kämpfe müssen mit einem Angriff auf die ganze Regierungspolitik gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Masse der Bevölkerung genutzt werden.
Ein Korrespondent aus Braunschweig berichtet über die örtliche Auftaktdemonstration im Rahmen der Herbstaktionen des DGB, die sich unter anderem gegen kommunale Kürzungen richtete: "Rund 2.500 Kollegen nahmen gestern Mittag an einer Gewerkschaftsdemo in Braunschweig teil. Davon gut 1.000 aus dem VW-Werk. Neben der IGM, Verdi, GEW und weiteren Einzelgewerkschaften nahmen Vertreter von BIBS (kommunalpolitische Liste der Bürgerinitiativen Braunschweigs), der Linkspartei, der MLPD, die Braunschweiger Montagsdemo, des Anti-AKW-Bündnisses, des Schülerrats, einer kirchlichen Arbeitsloseninitiative usw. daran teil. Viele Kollegen meinten, wir müssten noch viel mehr werden, um gegen die Regierung was auszurichten."
Kämpferische Tarifrunden und selbständige Kämpfe für Lohnnachschlag, die sich mit den wachsenden Protesten gegen die Regierung verbinden, können ein wichtiger Beitrag zur Entfaltung der Arbeiteroffensive sein.