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Israel: Größte Proteste seit Bestehen des Staates
01.08.11 - In Israel hat sich inzwischen die größte Protestbewegung seit Bestehen des Staates entwickelt. Heute findet ein Generalstreik statt, am vergangenen Wochenende demonstrierten in zehn Städten über 150.000 Menschen gegen die Regierung. "Die Regierung ist gegen das Volk – das Volk gegen die Regierung", lautet ein populäres Lied in diesen Protesten. Die Forderung nach Rücktritt der Netanjahu-Regierung wird lauter.
Die Proteste begannen am 12. Juli, als eine junge Filmemacherin aus Protest über die hohen Mietpreise in Tel Aviv ein Zelt aufschlug – innerhalb nur einer Woche wurde daraus ein Protestcamp mit 400 Zelten. Am 23. Juli demonstrierten bereits 40.000 Menschen durch Tel Aviv und seither steigert sich der Protest sowohl, was die Beteiligung anbelangt wie auch durch die Ausweitung der ökonomischen Forderungen, die sich zunehmend mit politischen verbinden.
Der Protest gegen die überhöhten Mieten hängt damit zusammen, dass das Wohnungswesen in Israel in den letzten Jahren massiv privatisiert wurde. In den 1960er Jahren waren noch 20 Prozent der Wohnungen staatlich mit preisgünstigen Mieten, heute sind es nur noch zwei Prozent. Dazu kommen Preissteigerungen, die die Lohnentwicklung weit übertreffen. In den letzten fünf Jahren wuchs das durchschnittliche Einkommen um 17 Prozent, die Lebensmittelpreise stiegen aber um 25 Prozent. Die Mieten stiegen um 27 Prozent, Wasserpreise um 40 und Benzin um 23 Prozent. Sehr viele indirekten Steuern verteuern die Lebenshaltung.
Dies trifft natürlich vor allem die ärmeren Teile der Bevölkerung, gerade auch die in Israel lebenden palästinensischen Arbeiter, verschlechtert aber zunehmend auch die Situation der kleinbürgerlichen Zwischenschichten, die sich sehr stark bei den Protesten engagieren. Seit Wochen streiken z.B. Ärzte gegen die sich verschlechternde medizinische Versorgung, die Anzahl der Ärzte pro Einwohner sinkt seit Jahren, Krankenhausärzte kritisieren Arbeitszeiten rund um die Uhr. 13 Prozent der medizinischen Absolventen der Ben Gurion Universität planen, das Land zu verlassen oder den Beruf zu wechseln. Eltern müssen bis zu einem Drittel ihrer Einkommen für Kindergarten-Gebühren aufwenden – auch dagegen wird protestiert. Bauern haben sich mit Kühen an Straßenblockaden beteiligt, Beduinenstämme haben sich verschiedenen Protestmärschen angeschlossen usw.
Eine neue Entwicklung ist, dass jetzt auch Palästinenser, die in Israel leben, sich den Protesten angeschlossen haben. Dazu Aiba Touma Soliman, Herausgeberin der Zeitung Al Ittihad von der Kommunistsichen Partei Israels, in einem Interview mit der "Roten Fahne": "Obwohl die Bewegung als reine Bewegung für soziale Rechte gestartet ist, gibt es doch ein wachsendes Verständnis über den Zusammenhang zwischen der sozialen Situation und der Besatzungs- und Kolonisierungspolitik ... Die Jugend orientiert sich sehr an der ägyptischen Bewegung und sie fordern mehr und mehr das System heraus. ... Die Araber in Israel leiden am meisten unter der sozialen und wirtschaftlichen Situation in Israel. Sie sind direkt von den Eigentumsgesetzen und Landgesetzen betroffen. Sie nehmen an den Protesten und Protestcamps teil und organisieren in ihren Dörfern und Städten auch selbst solche Proteste."
Die Einheit von israelischen und arabischen Kollegen in diesem Protest kann für das Netanjahu-Regime zu einer Existenzfrage werden; denn das Regime baut, um seine Terrorherrschaft gegen das palästinensiche Volk ausüben zu können, auf "Ruhe" im Land, darauf, dass diese Politik nicht massenhaft angegriffen wird. Dadurch verlöre das Regime auch zunehmend seine Eigenschaft als "Stabilitätsanker" des US-Imperialismus, als Wachhund gegen Befreiungsbewegungen im arabischen Raum.
Zunehmend werden die undemokratische Gesetzgebung, die Unterdrückung der Palästinenser und die Siedlungspolitik zum Gegenstand der Proteste. Nach einer aktuellen Umfrage unterstützen 87 Prozent der Bevölkerung die Proteste. Gestern trat bereits der Generaldirektor im Finanzministerium, Haim Schani, zurück. Die Regierung versucht nun, schrittweise zurückzurudern: Netanjahu bezeichnet die Proteste inzwischen als "gerechtfertigt", verspricht Reformen, Wohnungsbauprogramme usw. und setzt sich für einen sogenannten "Dialogausschuss" ein.
Im Moment sieht es aber nicht so aus, als ob dieses Betrugsmanöver verfangen könnte. "Wir sind nicht bereit, mehr der Präsentationen und Vorträge anzuhören, die Bibi (Netanjahu –Anm. der Red.) uns in dieser Woche angeboten hat, als ob wir Schulkinder wären. Unsere Forderungen sind einfach – wir wollen in Würde leben", so ein Demonstrant am Samstag ("globes-online", 31.7.11). Die Länder übergreifende revolutionäre Gärung hat Israel erreicht.