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Größter Massenprotest in der Geschichte Israels macht Mut für die Zukunft

06.09.11 - Fast eine halbe Million Menschen waren am Wochenende in Israel auf den Beinen. In der Hauptstadt Tel Aviv waren es über 300.000. Allein vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu demonstrierten über 30.000 und forderten ihn auf zurückzutreten. Verglichen mit der Einwohnerzahl von Deutschland wären vergleichsweise rund 5 Millionen Menschen auf der Straße. Als die 25-jährige Daphne Leef im Juni in Tel Aviv aus Protest über die hohen Mietpreise ihr Zelt mitten in der Stadt aufschlug, konnte keiner ahnen, dass daraus die größte Protestwelle des Landes wurde. Die Regierung ging davon aus, dass sie es mit einem Studentenprotest zu tun hat und muss inzwischen zugeben, dass ihr ein wachsender aktiver Volkswiderstand gegenübersteht. Sie hat ein Expertenteam eingesetzt, dass bis Ende September eine Lösung finden solle. Allerdings hat sie dafür schlechte Karten. Denn die Proteste haben viel tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Die extreme Aufblähung des Staatsapparates und Militärs in Israel einschließlich Bau der Mauer und der Siedlungen verschlingt einen Großteil des Staatshaushaltes, so dass sozialer Wohnungsbau, Gesundheits- und Bildungswesen immer mehr gekürzt wurden. Allein nach dem Angriff auf den Libanon 2006 wurden 2,5 Milliarden Euro „umgeschichtet“. Die Armut verschärfte sich in den folgenden Jahren. 36 Prozent aller Kinder lebten bereits 2007 unter der Armutsgrenze.

Der Wind der Rebellion im Nahen Osten und im Mittelmeerraum hat auch die Menschen in Israel ermuntert, ihre Sache in die eigene Hand zu nehmen. Die Zeltstädte in Madrid und Barcelona, die Besetzung des Tahir-Platzes in Kairo machen Schule. Es sind vor allem junge Leute, die ihre Zukunft in Frage gestellt sehen und die sich in der Protestbewegung engagieren.

Seit Beginn der Weltwirtschafts- und -finanzkrise gibt es immer wieder Kämpfe der Arbeiter im Lande. Es sind vorwiegend Menschen arabischer Abstammung, die zu Niedrigstlöhnen arbeiten müssen. Inzwischen erfahren immer mehr Menschen aus dem Kleinbürgertum, dass auch sie Opfer der Abwälzung der Krisenlasten sind. Unter dem Kleinbürgertum gab es bisher traditionell einen starken Glauben an die "soziale Mission" des Staates Israel, die auch in der Verfassung verankert ist. Das wird jetzt massiv erschüttert. 33 Prozent aller Beschäftigten sind beim Staat angestellt. Immer deutlicher werden den Menschen in Israel die tatsächlichen Klassenfronten bewusst. Demonstranten richten sich gegen die Preistreiberei der großen Supermarktketten und Lebensmittelkonzerne. Auf einem Transparent stand: „Das Land, in dem Milch und Honig fließen, aber nicht für jeden.“  Das nationalistische "Wir-Gefühl" und die zionistische rassistische Ideologie schwinden, die die jüdische Bevölkerung als 'auserwähltes Volk Gottes' bezeichnet

Im Kampf lernen die Menschen schnell. Viele Demonstranten denken über die berechtigten Tagesforderungen für höhere Einkommen, niedrigere Preise, ein besseres Gesundheitswesen usw. hinaus. Auf der Kundgebung in Tel Aviv rief der Studentenführer Itzik Schmuli, den Teilnehmern zu. „Wir, die neuen Israelis, sind entschlossen, den Kampf für eine gerechtere und bessere Gesellschaft fortzusetzen, wohl wissend, dass er lang und schwierig sein wird.“ Die Regierung weiß, dass ihre über Jahrzehnte gesicherte Herrschaftsmethode Probleme bekommt, weil sie auf die aufgeworfenen Fragen nach einer grundlegenden Perspektive keine Antwort geben kann. So verspricht sie Zugeständnisse und plant zugleich angesichts des Antrags der Palästinenser auf Mitgliedschaft in der UN eine groß angelegte Militäraktion. Damit hofft sie, die Protestbewegung mit Verweis auf die „äußere Bedrohung“ wieder klein zu kriegen. Die Zeltstädte sollen geräumt werden. Darauf bereitet sich aber auch ein Teil der Protestbewegung aktiv vor.

Es ist sehr bedeutend, dass jetzt 18 fortschrittliche Organisationen aus Israel und Palästina eine gemeinsame Erklärung zur Unterstützung der Sozialen Proteste veröffentlicht haben. Sie rufen zum gemeinsamen Kampf von Israelis und Palästinensern gegen Besetzung, Unterdrückung, Verarmung und Rassismus auf. In der Erklärung vom 5. September heißt es: „ ... dass ein Hauptgrund für die soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit von israelischen Bürgern, neben der kapitalistischen Wirtschaftspolitik, in der fortgesetzten Besetzung und in ausufernden Sicherheitskosten liegt.“  Wenn es keine israelischen Siedlungen gäbe, müssten diese auch nicht aufwändig bewacht werden, wird argumentiert. Weiter heißt es in der Erklärung: „Wir begrüßen die Beteiligung der Palästinensischen Bevölkerung an dem sozialen Protest.“

Diese Stimmen sind noch nicht prägend in der Massenbewegung. Und es ist in der Tat noch ein "langer und  schwieriger Weg" zurückzulegen, damit jüdische und arabische Menschen in Israel und seinen Nachbarländern Seite an Seite für ein Leben in Frieden und ohne Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen werden.

Ein Film der Eindrücke vermittelt: Jugendliche fordern Revolution: http://www.youtube.com/watch?v=t8u8cjS-TiM&feature=related