International
"Die andere Stimme" Israels
16.11.12 - Vor gut einer Woche schrieben Leute aus den südlichen Gemeinden Israels einen Brief an Ministerpräsident Netanjahu und den Verteidigungsminister:
„Wir, Mitglieder der „Anderen Stimme“ aus den Gemeinden nahe dem Gazastreifen bitten die Regierung Israels dringend darum, sie möge nicht weiter mit unserem Leben spielen, sondern möglichst schnell mit der Hamasregierung diplomatische Kontakte aufnehmen! Wir sind es müde, wie Enten auf einem Schießplatz zu sitzen um politischer Interessen willen. Raketen von dort und Bomben von hier schützen uns nicht. Dieses Land hat lange genug, ja jahrelang, Kriegsspiele mit brutaler Gewalt gespielt . Beide Seiten haben dafür zahlen müssen und zahlen noch immer einen hohen Preis an Leiden und Verlusten. Es ist Zeit zu reden und für ein dauerhaftes Verständnis zu kämpfen, damit die Menschen auf beiden Seite der Grenze zu einem normalen Leben finden.“
„Die andere Stimme“ ist eine Gruppe aus Sderot und Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens, die einen anhaltenden Kontakt mit Bewohnern des Gazastreifens halten und nachbarliche Beziehungen und Dialog führen.
Zu der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, gab es keine Eskalation an der Grenze zum Gazastreifen und das Problem machte keine Schlagzeilen. Aber man musste kein Prophet sein, um sich darüber im Klaren zu sein, dass er früher oder später wieder ins Rampenlicht kommt. Vor allem, wenn man genau in dieser Gegend lebt.
Am Donnerstag letzter Woche kam über den Gazastreifen nichts in den Nahrichten. Die Schlagzeilen waren mit den Ergebnissen der US-Wahlen und ihrer Bedeutung für die israelische Politik beschäftigt. Und mit einer kleineren Nachricht, die von einem Kollaps eines Einkaufszentrums in Accra, Hauptstadt von Ghana, berichtete. Viele Menschen lägen dort unter den Trümmern. Die IDF organisierte schnelle und effiziente Mobilisierung, um eine Rettungsmission innerhalb weniger Stunden auf den Weg zu bringen; drei Ghanaer wurden von unsern Soldaten aus dem Schutt gerettet. Tatsächlich ein Beispiel humanitärer Hilfe, die das Herz eines Israelis wärmt und mit Freude erfüllt.
Gaza kam in den Nachrichten am letzten Donnerstag nicht vor – aber die IDF sind jeden Tag mit Gaza beschäftigt – mit oder ohne Schlagzeilen. In derselben Zeit, in der die IDF nach Ghana zur Rettungsmission aufbricht, überquerten israelische Panzer und Bulldozer die Grenze in den Gazastreifen und über ihnen flogen Helikopter-Gunships. Es gab eine Menge Schießerei und Gegenschießerei und Gegen-gegen-Schießerei und während dieses Schießens flogen Kugeln aus einem israelischen Maschinengewehr auf ein Stück Land, östlich von Khan Junis, wo Jungs zu dieser Zeit Fußball spielten.
Ob das nun eine Waffe von einem Panzer oder vom Helikopter war, wird man wahrscheinlich nie erfahren, was auch nicht wichtig ist. Wichtig ist dagegen, dass eine der Kugeln den Kopf eines 13Jährigen traf, Hamid Abu Dakka, der ein paar stunden später an seinen Wunden im Krankenhaus starb.
Das Office des IDF-Sprechers erzählte fragenden ausländischen Journalisten, dass die Soldaten nicht absichtlich mit ihren Waffen auf den Jungen gezielt hätten. Und tatsächlich ist es unwahrscheinlich ((??)), dass ein israelischer Soldat bewusst und absichtlich auf Fußball spielende Jungen schießen würden. Doch ist der Junge tot und begraben.
Was sollten die Bürger Israels über diesen tragischen Fall sagen? Die Wahrheit ist, dass die meisten Bürger Israels überhaupt nichts von diesem Fall gehört haben. Ihre Massenmedien vergaßen es, ihnen zu sagen; Nachrichten-Herausgeber empfinden einfach nicht, dass ein toter arabischer Junge eine Nachricht wert ist. Dann kam die harte Überraschung. Am Tag nach der Beerdigung des Jungen feuerte eine palästinensische Fraktion eine Rakete auf ein IDF-Fahrzeug, das seinem üblich Geschäft nachging und auf der israelischen Seite des Zaunes auf einer von Israel gebauten Patrouille-Straße entlang fuhr. Vier Soldaten wurden verwundet und ins Krankenhaus gebracht. Ein Artikel, der eine ganze Seite füllte, beschrieb den Vorfall in allen Einzelheiten und brachte sogar die medizinischen Berichte über die Lage von jedem einzelnen der Soldaten. Wie es sich für ein Land gehört, das sich um seine Soldaten kümmert, die in die Schlacht geschickt werden.
Die IDF reagierte sofort und wütend auf das Verletzen der vier Soldaten. bei dem massiven Artilleriebeschuss wurden vier Zivilisten, die in einem Trauerzelt im Osten von Gaza-Stadt saßen und deren Familien nun noch mehr in Trauer versetzt wurden . Dies wurde in den israelischen Medien knapp und mit wenig Detail berichtet. Zum Beispiel ohne zu erwähnen, dass drei der Getöteten Teenager waren. Sicher hat kein Editor in Israel dies für Wert gehalten, zu erwähnen, dass der 17Jährige Mohammed Hararah nicht von der ersten Granate getroffen wurde, sondern als er dem Verletzten helfen wollte von noch einer Granate getroffen und sofort getötet wurde. Das sind keine wirklichen Nachrichten.
Und gestern gab es ein großes Sperrfeuer mit Raketen, auf israelische Gemeinden rund um den Gazastreifen. Die Sirenen heulten immer wieder und die Menschen flohen in die Schutzkeller. Zum Glück wurde niemand getötet. In den Medien gab es zorniges Gerede über die unerträgliche Situation in den südlichen Gemeinden und über die Kinder, die dort in einem schrecklichen Zustand täglicher Angst aufwachen. Keiner sprach von den Bedingungen, unter denen die Kinder in Gaza aufwachsen und von denen, die am Tag zuvor den Tod eines ihrer Brüder miterlebten. Das ist nicht überraschend, weil ein Land im Krieg kaum Gedanken über die Kinder des Feindes verschwendet.
(Morgenabend plant eine Aktivistengruppe sich vor dem Haus des Ministerpräsidenten zu treffen, um dort eine Nachtwache mit Kerzen zu halten und mit Namensschildern mit den Namen der Menschen, die in Gaza getötet wurden, aber in den Medien nicht veröffentlicht wurden. Es wird wahrscheinlich nicht gern gesehen werden.)"
(dt. Ellen Rohlfs)