International
Bulgarien: Regierung gestürzt – aufgebrachte Massen fordern "neues System"
02.03.13 - In Bulgarien herrscht eine offene politische Krise. Erst gestern scheiterte ein Krisentreffen mit Gewerkschaften und Vertretern der kämpferischen Opposition in Sofia, das der bulgarische Staatspräsident Rossen Plewneliew einberufen hatte. Für den morgigen Sonntag sind in zahlreichen Städten Bulgariens Massendemonstrationen geplant. Unter anderem wird die Senkung der Strompreise gefordert, ebenso die Erhöhung der Löhne und der Renten und die Verstaatlichung der Stromversorgung. Sie liegt seit einigen Jahren in der Hand zweier tschechischer und eines österreichischen Energieunternehmens. Plewneliew will eine Übergangsregierung aus parteilosen "Experten" bilden, nachdem andere Versuche der Regierungsbildung gescheitert sind.
Seit einem Monat ist die politische Lage in Bulgarien für die Herrschenden außer Kontrolle geraten. Arbeiterstreiks und Bevölkerungsproteste prägen das öffentliche Leben. Ausgelöst wurden die Massenproteste Anfang Februar durch sprunghaft gestiegene Strompreise. Im Januar waren die Rechnungen bis zu 3 mal höher als im Vormonat. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Staatsapparat, aber auch mit Neofaschisten, die gegen die Protestierenden mit Gewalt vorgingen. Die Forderungen richten sich zunehmend auch gegen die Willkür der Banken, die Zerstörung der natürlichen Umwelt, die elende Lebenslage überhaupt und gegen die korrupten Politiker und ihre Parteien insgesamt.
Auch die früher regierenden Sozialistische Partei (BSP) ist völlig unten durch, weil sie die Krisenprogramme auf Geheiß von EU und Internationalem Währungsfond eingeleitet hatte. Ebenso die mit ihr verbundenen Führer der Gewerkschaften KNSB und Podkrepa , die in den vergangenen Jahren zahlreiche Streiks und Kampfmaßnahmen gegen Firmenschließungen, Entlassungen und Lohnkürzungen abgewürgt hatten.
Das Internationales Vorbereitungskomitee zur 1. Internationalen Bergarbeiterkonferenz (IMC) in Arequipa vom 28. Februar bis 3. März, erklärte zu der Entwicklung in Bulgarien am 26. Februar: "Bulgarien ist das ärmste Land in der Europäischen Gemeinschaft und bei einem durchschnittlichen Lohn des Arbeiters von 370 Euro wird eine dreiköpfige Familie inzwischen mit 250 Euro Strompreis monatlich belastet. Die Massenproteste und Streiks haben dazu geführt, dass die Regierung inzwischen zurücktreten musste, aber die Proteste gehen weiter, weil die Stromrechnungen die gleichen geblieben sind. In Bulgarien wurde wie in der gesamten EU der Kohlebergbau seit 1989 systematisch zerstört. Heute gibt es nur noch Goldbergbau der Zeche Pirdop, der allerdings die Umwelt massiv vergiftet und einen Raubbau an der Natur betreibt, die Arbeiter mit niedrigen Löhnen und harten Arbeitsbedingungen unterdrückt. Jetzt, wo die Regierung zurücktreten musste, hat der Konzern die Schließung der Minen angekündigt. Die Proteste der Bergleute und der ehemaligen Bergleute in Bulgarien spielen eine wesentliche Rolle in den jetzigen Klassenauseinandersetzungen."
Die Zahl der Protestierenden nimmt auch nach dem Rücktritt der Regierung weiter zu. Am Sonntag, dem 24. Februar 2013, demonstrierten erneut 50.000 Menschen in Varna und 10.000 in Sofia.
In einem Interview erklärte ein Marxist-Leninist aus Bulgarien: „Man verlangt jetzt, dass alle Politiker und ihre Parteien, die in den letzten 23 Jahren die Macht ausübten, zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie das Land in diesen Zustand gebracht haben."
Noch wird das kapitalistische Gesellschaftssystem von der Mehrheit der Protestierenden nicht insgesamt infrage gestellt. Sie verspricht sich noch Verbesserungen durch eine Reform des parlamentarischen Systems. Die Zerrüttung des Landes, die wachsende Armut und der rücksichtslose Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen ist aber in dem unersättlichen Profitstreben des internationalen Finanzkapitals begründet.
Um dem Sozialismus zu neuem Ansehen zu verhelfen, müssen die negativen Erfahrungen mit dem bürokratischen Staatskapitalismus zwischen 1956 und 1989, der sich als 'realer Sozialismus' ausgab, gründlich verarbeitet werden.