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Internationale solidarische Beobachter in Istanbul: Sevim Dağdelen ("Die Linke"), Dr. Ernst Herbert (MLPD), Claudia Roth (Grüne)

Internationale solidarische Beobachter in Istanbul: Sevim Dağdelen ("Die Linke"), Dr. Ernst Herbert (MLPD), Claudia Roth (Grüne)
Blockade der Stadtautobahn in Istanbul (Foto: rf-news)

16.06.13 - Als Vertreter der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) nimmt Dr. Ernst Herbert an einer der Solidaritätsdelegationen teil, die in Istanbul live die Massenrebellion gegen die Erdogan-Regierung miterleben. Er berichtet von dem brutalen Polizeiüberfall am gestrigen Abend an "rf-news":

"Die Delegation war mitten unter den Zehntausenden, die wie jeden Abend in den Park gekommen waren, um gemeinsam gegen die Zerstörung des Parks und die reaktionäre Politik von Regierungschef Tayyip Erdogan zu demonstrieren, zu diskutieren und das weitere Vorgehen zu beraten. Es war eine ausgesprochen solidarische Stimmung in dem großen selbstorganisierten Camp, als kurz vor 21 Uhr Ortszeit – es begann bereits dunkel zu werden – die Warnung über die anstehende Räumung des Parks durchdrang. Es blieb kaum so viel Zeit, dass Kinder und gebrechliche Menschen den Park verlassen konnten.

Kaum hörten wir von dem bevorstehenden Gasangriff, als sich die 'Mütter der Parkbesetzer' kämpferisch in enger Reihe durch die Menschen den Weg Richtung Taksim-Platz bahnten. Die Aktivisten aus dem Park besetzten die bereits seit Dienstag aufgebauten Barrikaden an den Straßen direkt am Park, in anderen Straßen wurden aus Baumaterial und allem, was man auf der Straße finden konnte, neue aufgebaut. Mit Arbeitshelmen und Masken zum Schutz gegen Reizgas, zum Teil professionellen Gasmasken, hatten sich die Aktivisten schon in den Tagen zuvor auf den Angriff vorbereitet, um nicht ungeschützt zu sein. ...

Mit Wasserwerfern, Gas und Schlagstock ging die Polizei dann daran, das Umfeld des Platzes und des Parks weiträumig abzusperren und die Menschen zu vertreiben. Die Demonstrationen gingen deshalb in den Straßen davor weiter und verbreiteten sich. Die Stadtautobahnen wurden besetzt, Tausende macht sich sofort auf den Weg Richtung Taksim-Platz. Bis zum frühen Morgen war die Bosporus-Brücke von 30.000 bis 40.000 Menschen besetzt. Auch in weit entfernten Stadtteilen entwickelten sich Protestzüge, in denen Menschen noch weit nach Mitternacht Töpfe schlagend und Parolen rufend durch die Straßen zogen. Doch auch hier gab es Polizeilager mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen."

Mit diesem brutalen Staatsterror geht Erdogan, der noch kurz zuvor Gesprächsbereitschaft geheuchelt hatte, gegen die sich ausweitende Massenrebellion vor.

Dr. Ernst Herbert schreibt: "In den Tagen vor dem brutalen Polizeieinsatz herrschte im Gezi-Park eine ausgesprochen friedliche Stimmung. Die Polizei hatte sich an die Ränder des Taksim-Platzes zurückgezogen. ... Am Morgen des Freitag wurde über Medien verbreitet, dass Erdogan die vier Hauptforderungen der Besetzer anerkennen würde:

  • Erhalt des Geziparks
  • Anerkennung des Urteils des obersten Gerichts, das einen Baustopp erlassen hatte
  • Bestrafung der Polizisten, die gewaltsam gegen die Massenrebellion vorgehen
  • Freilassung aller Verhafteten

Das hatte auch Hoffnungen geweckt, dass Erdogan nachgeben würde, und wurde schon als taktischer Erfolg gesehen. Allerdings sollte dazu die Besetzung des Parks aufgegeben werden. Darüber gab es ab Freitag Nachmittag eine intensive Diskussion unter den Aktivisten in sogenannten 'Foren' mit jeweils hunderten von Teilnehmern und offenem Mikrofon. In der 'Park-Plattform', die die ganze Besetzung als Selbstorganisation organisiert hatte, wurden die Ergebnisse zusammengetragen. Am Samstag Vormittag war dann klar, dass die Besetzung nicht aufgegeben wird."

Tatsächlich hatte Erdogan die angebliche Gesprächsbereitschaft lediglich als Taktik eingeschlagen, um Zeit zu gewinnen und dem Widerstand den Zahn zu ziehen. Ohne Erfolg!

In Ankara griff heute Nachmittag die Polizei die auf dem Kizilay-Platz versammelten Menschen an. Diese wollten Ethem Sarisülük, der bei den Protesten von der Polizei ermordet worden ist, zu Grabe tragen und wurden mit Wasserwerfern und Tränengas auseinander getrieben. Nach kurzer Zeit versammelten sie sich wieder. Der Bruder von Ethem Sarisülük hielt auf dem Platz eine Rede. "Ab sofort wird das Volk auf der Staße sein, ihr könnt angreifen, wie ihr wollt, wir werden nicht aufgeben!", so der Bruder. Für den morgigen Montag ruft KESK, der Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Diensts in der Türkei, zum Generalstreik auf.

Hundertausende demonstrieren zur Stunde in den Straßen hunderter türkischer Städte gegen die brutale Räumung von Gezi-Park und Taksim-Platz am gestrigen Abend. Die Massenrebellion gegen die reaktionäre Regierungspolitik von Erdogan und AKP weitet sich aus. "Taksim ist überall – überall ist Widerstand", das gilt wortwörtlich. Massendemonstrationen finden unter anderem in Istanbul, Ankara, Bursa, Mersin, Edirne, Izmir, Samsun, Antalya, Çanakkale, Adana, Tarsus, Trabzon, Konya und Antep statt. Überall gibt es massive Auseinandersetzungen mit der Polizei, Demonstranten wurden verletzt, in Istanbul wurde eine Gruppe freiwilliger Ärztinnen und Ärzte verhaftet. Die Straßen, die zum Taksim-Platz führen, werden von der Polizei abgesperrt. Die Demonstrationen jedoch bahnen sich ihren Weg.

(Den Bericht von Dr. Ernst Herbert in voller Länge können Sie hier lesen)