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Tunesien: Entwickelt sich ein neuer Volksaufstand?
30.07.13 - Zehntausende begleiteten das Begräbnis des ermordeten linken Politikers und Gewerkschaftsführers Mohamed Brahmi am Wochenende in Tunis. „Mit unseren Seelen und unserem Blut werden wir dich rächen, Märtyrer", riefen sie. In der Stadt wurden die Proteste der letzten Tage fortgesetzt.
„Verschwindet, Verschwindet“ ist die alte Losung, mit der sie den Rücktritt der Regierung und die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung forderten. Die Polizei setzte große Mengen Tränengas ein, um die Kundgebung aufzulösen. Es war der zweite Mord an einem führenden Oppositionspolitikers in wenigen Monaten. Im Februar wurde Chokri Belaïd, ein wichtiger Vertreter der aus verschiedenen fortschrittlichen und revolutionären Kräften bestehenden „Front populaire" (Volksfront) aus der gleichen Waffe erschossen.
Die Volksfront hatte einen entscheidenden und führenden Anteil am Sturz des reaktionären Ben-Ali-Regimes im Januar 2011. In den letzten Monaten hatte die Arbeiter- und Volksbewegung gegen die reaktionär-islamistische Ennahda-Regierung mit Streiks und Demonstrationen einen deutlichen Aufschwung genommen. Diese ist eng mit der Muslimbruderschaft in Ägypten verbunden. Wie in Ägypten wird ihr vorgeworfen, das Land zu islamisieren. Wie in Ägypten hat sich die soziale Situation seit dem Aufstand 2011 weiter verschlechtert. Sowohl staatliche Organe als auch mit der Ennahda-Partei verbundene konterrevolutionäre Milizen reagierten mit verschärften Unterdrückungs- und Gewaltmaßnahmen gegen die Volksbewegung.
Die Massenproteste nach dem erneuten Mord spiegeln den Hass auf diese Regierung wider, die faschistisch-islamistische Kräfte nicht nur duldet, sondern auch mit ihnen verbunden ist und sie fördert. Die Massen haben vor Augen, wie in Ägypten Staatspräsident Mursi und seine regierende Muslimbruderschaft durch einen zweiten Volksaufstand gestürzt wurden. Die „Front Populaire“ forderte „bis zum Fall der Regierungskoalition“ zu „zivilem Ungehorsam an jedem Ort des Landes“ auf. Der Aufruf des einflussreichen Gewerkschaftsdachverbands UGTT, der eine halbe Million Mitglieder hat und als Einheitsgewerkschaft fungiert, zum Generalstreik „gegen den Terrorismus, die Gewalt und die Morde“ wurde landesweit befolgt. Bereits nach dem Mord im Februar wurde der Regierungschef ausgetauscht und eine vollständige Untersuchung versprochen, die jedoch im Sande verlief. Jetzt ordnete der Staatspräsident scheinheilig eine eintägige Staatstrauer an, um den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Regierungschef Ali Larayedh schlug Neuwahlen für den Dezember vor. Zuvor soll die verfassunggebende Versammlung bis Ende August den Entwurf für eine neue Grundlage der tunesischen Verfassung vorlegen.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) und Frankreichs Staatschef François Hollande verurteilten den Anschlag, warnten aber vor „Gewalt“ als politisches Mittel. In Ägypten versucht zur gleichen Zeit EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zu „vermitteln“ und besuchte auch den gestürzten Präsidenten Mursi im Gefängnis. Ihnen geht es nicht um die Unterstützung der berechtigten Anliegen der Volksmassen, sondern allein um die Sicherstellung ihrer imperialistischen Interessen. Die erste Welle der Massenaufstände für Demokratie und Freiheit ausgehend von Tunesien 2011, führten zum Sturz langjähriger Diktatoren wie Mubarak in Ägypten und Ben Ali in Tunesien. Nach ihrem Sturz setzten die US- und EU-Imperialisten auf die Karte proimperialistisch-islamistischer Regierungen. Dieses Spiel ist mit dem Sturz Mursis in Ägypten und den Massenprotesten in Tunesien gescheitert. Auf ihrem IX. Parteitag Ende 2012 bilanzierte die MLPD nüchtern, dass die „Aufstandsbewegung in eine Sackgasse geraten ist und sogar zum Spielball imperialistischer Machtinteressen wurde“. Nur ein halbes Jahr später deutet durch den Volksaufstand in Ägypten und die Massenproteste in Tunesien vieles darauf hin, dass sich erneut eine revolutionäre Gärung entwickelt. Die Kämpfe in Tunesien reihen sich ein in die aktuellen demokratischen Kämpfe und Massenaufstände in der Türkei, Brasilien und Ägypten. Die internationale Solidarität mit diesen Kämpfen, ihre Bekanntmachung in Zusammenhang mit der Stärkung der ICOR wird ein wichtiger Bestandteil in der heißen Phase des Wahlkampfes der MLPD sein.