International
Offene politische Krise in der Türkei
27.12.13 - Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat in den letzten Tagen zehn seiner 26 Minister ausgewechselt. Einige traten - teilweise erzwungen - zurück, weitere wurden entlassen. Anlass waren bekannt gewordene Korruptionsaffären. So traten die Minister für Wirtschaft und Inneres sowie der Bau- und Umweltminister wegen Korruptionsermittlungen gegen ihre Söhne zurück. Der bisherige EU-Minister Egemen Bagis, der ebenfalls unter Korruptionsverdacht steht, wurde seines Amtes enthoben. Während die Medien die Verwicklung in illegale Geschäfte mit dem Iran breit treten, steht die Korruption tatsächlich vor allem in Verbindung mit der Durchsetzung gigantischer Bauprojekte gegen die Interessen der Massen.
Die offen ausgebrochene Regierungskrise weitet sich auf immer mehr Bereiche des türkischen Staatsapparats aus und umfasst auch bereits die Polizei und Justiz. Landesweit wurden mehr als 500 Polizeibeamte ihrer Posten enthoben. Viele Menschen sind aufgebracht über die Korruption. In den letzten Tagen kam es in Istanbul und anderen Städten erneut zu Demonstrationen für den Rücktritt der Erdogan-Regierung. Hintergrund ist die auch nach den Gezipark-Protesten weiter aufgestaute Unzufriedenheit mit der Regierung.
Das steht in Verbindung mit einem offen ausgebrochenen Machtkampf zwischen zwei konkurrienden reaktionär-islamistischen Strömungen innerhalb der Regierungspartei AKP. Das seit Ende der 1990er Jahre zwischen der AKP Erdogans und der Bewegung von Fethullah Gülen geschlossene Bündnis trug wesentlich zum Wahlerfolg 2002 und der anschließenden Regierungsübernahme bei. Bereits seit den 1980er Jahren hatten Gülens Anhänger wachsenden Einfluss vor allem im Staats- und Justizapparat gewonnen.
Entgegen der verbreiteten Darstellung in den bürgerlichen Medien verkörpert auch Gülen alles andere als einen "toleranten" bzw. "modernen" Islam. Seine Cemaat-Bewegung ist islamistisch-chauvinistisch und tritt für ein Imperium aller Turkvölker vom Balkan bis zur chinesischen Mauer ein. Gülen war auch Mitbegründer des "Vereins zur Bekämpfung des Kommunismus" in seiner Heimatstadt Erzurum. Angesichts der Forderungen demokratischer Kräfte nach seiner Inhaftierung wegen Vorbereitung eines reaktionär-islamistischen Putsches floh er im März 1999 in die USA, wo er mit Hilfe seiner CIA-Kontakte Daueraufenthalt erhielt.
Die Gülen-Bewegung ist nicht nur die einflussreichste islamistische Strömung in der Türkei, sondern hat auch in ca. 140 Ländern mehr als 1.000 Privatschulen, Studentenheime und Hospitäler. Ihr gehören in der Türkei die auflagenstarke Tageszeitung "Zaman", der Fernsehsender "Samanyolu" und verschiedene Wirtschaftsunternehmen wie etwa die Bank Asya. Sie tut sich auch mit extrem anti-alevitischer Hetze und der Ablehnung jeglicher Zugeständnisse an die kurdische Befreiungsbewegung hervor.
Das zunehmende Zerwürfnis zwischen den beiden Gruppen hat seinen Ausgangspunkt im Einbruch der Massenbasis der AKP in Verbindung mit den Gezipark-Protesten, aber auch in wachsenden Widersprüchen zwischen der neoimperialistischen Türkei und dem US-Imperialismus. Während Erdogan stärker die eigenständigen Interessen der Türkei betont, werden Gülen engere Verbindungen zur USA nachgesagt. Das äußerte sich in den letzten Monaten in einem verstärkten Kampf um Einfluss auf Posten und Ressourcen und eskalierte in der Aufnahme polizeilicher Ermittlungen gegen die in Korruption verstrickten Söhne von drei Ministern sowie den Direktor der staatlichen Halk-Bank.
Maßgebliche Verantwortliche für diese Ermittlungen, die der Gülen-Bewegung angehören bzw. nahestehen, ließ Erdogan inzwischen kaltstellen. Dem für die Ermittlungen in Istanbul zuständigen Staatsanwalt wurde der Fall ohne Begründung entzogen. Zuvor seien Verdächtige, darunter bekannte Persönlichkeiten und Beamte, entgegen seiner Anweisung nicht von der Polizei festgenommen worden. Die Regierung hat außerdem verfügt, dass Vorgesetzte künftig über Ermittlungen informiert werden müssen. All das ist ein Hohn auf das von Erdogan selbst gepflegte Images als unbestechlicher "Saubermann" und Bekämpfer der Korruption.
Die offen ausgebrochene politische Krise ist vor allem eine Krise der Legitimation der Erdogan-Regierung, die bei wachsenden Teilen ihrer Massenbasis ihren Kredit verliert. "Lügner" und "Dieb" stand auf Plakaten, die bei den Demonstrationen der letzten Tage Erdogan zeigten. Auch die Gülen-Leute wollen sich demagogisch den Ruf nach Freiheit und Demokratie zunutze machen. Ungeachtet dessen sind die wieder aufflammenden Proteste gegen die Regierung völlig berechtigt.