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Gelsenkirchen: Flüchtlinge blockieren Rathaus: "Wir wollen bleiben!"
26.08.16 – Gestern beschlossen rund 100 Flüchtlinge aus Syrien einstimmig eine Sitzblockade vor dem Hans-Sachs-Haus, dem Rathaus in Gelsenkirchen. Zuvor hatte der Rat der Stadt Gelsenkirchen alle ihre Forderungen - vorgetragen vom kommunalen Wahlbündnis AUF Gelsenkirchen - abgelehnt. Sie fordern die Rücknahme der "Wohnsitzauflage", vor allem ihre rückwirkende Einführung. Auch heute gegen 14:30 Uhr waren wieder über 60 Flüchtlinge bei der Blockade. Viele von ihnen inzwischen schon seit fast 24 Stunden. Nachts hatten vor allem junge Männer die Blockade aufrechterhalten. Inzwischen sind wieder ganze Familien mit Kindern und Frauen hier.
Abdul Rachim Alhag Gomaa erzählt, dass er und seine Tochter nach Rügen gehen sollen. Nur sein 21-jähriger Sohn dürfe in Gelsenkirchen bleiben. So werden Familien, die nach Monaten der Flucht in Deutschland endlich wieder zusammengefunden haben, erneut über Hunderte von Kilometern verstreut.
Was war geschehen? Das "Integrationsgesetz" vom 4. August schreibt vor, dass Flüchtlinge in die Stadt zurückgeführt werden, in der sie erstmalig in Deutschland registriert wurden. Und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2016. Was das für rund 2000 vorwiegend aus Syrien stammende Flüchtlinge in Gelsenkirchen bedeutet, trugen diese seit dem Bekanntwerden der ersten Bescheide vor circa 10 Tagen gemeinsam mit der Montagsdemo, dem überparteilichen Kommunalwahlbündnis AUF Gelsenkirchen und der MLPD an die Öffentlichkeit.
Die Stadt Gelsenkirchen spielt eine traurige Vorreiterrolle bei der Umsetzung dieses Gesetzes. Syrische Flüchtlingsfamilien, die seit dem 1. Januar 2016 in Gelsenkirchen angekommen sind, Wohnungen angemietet haben, ihre Kinder auf die Schule schicken, bekommen keine Gelder vom Jobcenter. Sie haben aber Mietverträge und müssen Essen kaufen - viele Familien stehen vor dem Nichts.
Auf der Montagsdemonstration vom 22. August, an der sich 400 Flüchtlinge beteiligten, wurden Delegierte gewählt, die ihre Anliegen gegenüber der Stadt vertreten sollten. Monika Gärtner-Engel, Stadtverordnete von AUF Gelsenkirchen, stellte für die gestrige Ratssitzung einen Dringlichkeitsantrag. Sie forderte, die Situation der Flüchtlinge als Tagesordnungspunkt zu behandeln, die Regelungen für Gelsenkirchen zurückzunehmen und den Delegierten der Flüchtlinge Rederecht zu gewähren. Das wurde von der übergroßen Mehrheit der Ratsmitglieder in Anwesenheit von knapp 100 Flüchtlingen kaltschnäuzig abgelehnt. Das Thema könne bis zur Ausschusssitzung in zweieinhalb Wochen warten. Nur AUF Gelsenkirchen, die Vertreter der Linkspartei und WIN stimmten dafür.
Diese Entscheidung stieß auf helle Empörung bei den Flüchtlingen und ihren Unterstützern. Parallel zur Ratssitzung hatten sie eine spontane Protestkundgebung durchgeführt. Die Kundgebung war durchgängig in Deutsch und Arabisch, um auch die Passanten in der Innenstadt einzubeziehen und zu informieren.
Nach der Entscheidung des Rates formierte sich aus der Kundgebung schnell eine entschlossene und disziplinierte Sitzblockade vor dem Haupteingang des Hans-Sachs-Hauses. Ein Flüchtling sagte: „Wir sind vor Krieg, vor Bomben und Hunger nach Deutschland geflohen, weil wir glaubten, wir könnten hier in Frieden leben und unsere Kinder fänden Sicherheit. Wir fordern menschenwürdige Behandlung! Viele von uns sind eh schon auf die Straße geflogen, dann bleiben wir jetzt gemeinsam hier sitzen!“
Als die Ratssitzung zu Ende war, diskutierten die Flüchtlinge mit Monika Gärtner-Engel über die Debatte im Ratssaal. Dabei bröckelt auch spürbar das positive Bild der Bundeskanzlerin und ihrer angeblichen Willkommenskultur, das viele Flüchtlingen noch haben.
Ein Kurde aus Rojava (Nordsyrien) ist stolz auf die Aktion: "Wir sind Kurden, Araber und andere. Aber es ist auch egal, ob jemand aus Afghanistan kommt oder Somalia. Wir sind eine Community, haben alle das gleiche Problem und bleiben hier, bis wir eine Lösung haben. Wir machen keine Unterschiede."
Andere erzählen von Flüchtlingen, die die Auflagen verwirklicht haben, und in die Herkunftsstadt zurückgegangen sind. Dort hat man ihnen allerdings auch nicht geholfen. Sie wurden gefragt, warum sie zurückgekommen seien und dass ihre Papiere nicht hier seien. Auch deswegen wollen die Flüchtlinge in Gelsenkirchen zusammen bleiben.
AUF Gelsenkirchen, die Montagsdemo und die MLPD organisieren mit vielen Freunden der Flüchtlinge die Unterstützung und Versorgung. Immer wieder bringen Freunde und Anwohner/-innen Wasser oder Obst, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Ein deutscher Unterstützer berichtet, wie die Stadtspitze auf Zeit spielt und mit primitiven Tricks versucht AUF Gelsenkirchen aus den Verhandlungen auszubooten. Seit heute Morgen wird auf ein Gespräch heute um 14 Uhr orientiert. "Das Ziel ist klar. Die Stadtspitze hofft, dass die Blockade übers Wochenende nicht aufrechterhalten werden kann."
Vor Ort spürt man die eiserne Entschlossenheit, die sich die Flüchtlinge vor und während ihrer Flucht erkämpft haben. Mahmod Doghaim kommt wie alle hier aus Syrien. Er sagt: “Ich bleibe hier, bis mein Problem gelöst ist."
Diese Aktion verdient breit bekanntgemacht und unterstützt zu werden. Solidaritätsbesuche vor dem Hans-Sachs-Haus sind willkommen (Ebertstr. 11 in der Innenstadt Gelsenkirchens).
Zu Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die Stadt den Flüchtlingen ein Angebot gemacht hat. Demnach solle die Umsetzung der Wohnsitzauflage für alle Flüchtlingen, die bis 6. August Anträge gestellt haben, bis Oktober ausgesetzt werden. Anträge, die vorher gestellt wurden, werden bis Oktober bewilligt. Schon bewilligte Anträge, die jetzt und im September auslaufen werden verlängert. 100 Euro pro Person werden sofort ausbezahlt, der Rest und die Miete überwiesen. Die Krankenversicherung garantiert. Ein erster ganz großer Erfolg. Herzlichen Glückwunsch! Aber es ist nur die halbe Strecke. Deshalb haben die Flüchtlingen beschlossen vorerst zu bleiben.
Fotostrecke von der Blockade gestern und heute
Faksimile des städtischen Angebot