Politik
Sascha W.: Der Tod eines weiteren potenziellen Zeugen im NSU-Komplex wirft Fragen auf
20.02.16 - Immer mehr Menschen aus dem Umfeld des faschistischen "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU), die als Zeugen vor dem NSU-Untersuchungsausschuss Baden-Württemberg auftreten oder auftreten sollten, sterben eines merkwürdigen Todes. Der NSU hat zwischen 2000 und 2006 eine Serie von Morden und Anschlägen an neun Menschen mit Migrationshintergrund begangen. Die These, dass der NSU lediglich aus drei Personen bestanden hat, wird mittlerweile durch viele Experten bezweifelt. So sind allein über 40 V-Leute der Geheimdienste im Umfeld des NSU aktiv gewesen.
Am 15. Februar hat die Öffentlichkeit mehr als eine Woche nach dem Tod des 31-jährigen Sascha W. von seinem angeblichen Suizid erfahren. Laut Ermittlungsbehörden soll es zwar einen Abschiedsbrief geben, allerdings schweigen sie über seinen Inhalt. Fest steht für sie aber: Ein Jahr nach dem Tod seiner Verlobten soll der Trennungsschmerz so groß gewesen sein, dass er sich selbst getötet hat. Zweifel sind angebracht: Sascha W. galt bis zuletzt als lebensbejahend.
Seine Verlobte, Melisa M., war andererseits die ehemalige Freundin von Florian Heilig, einem Aussteiger aus der neofaschistischen Szene. Er soll sich angeblich am 16. September 2013 am Rand des Cannstatter Wasens in Stuttgart in seinem Auto verbrannt haben. Am selben Tag wollte er beim Landeskriminalamt eine Aussage machen. Für das Motiv seines angeblichen Suizids mussten nachträglich unterschiedlichste Motive herhalten.
Melisa M. wiederum hatte 2015 in einer geheimen Sitzung des baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschusses ausgesagt. Am 28. Mai 2015 starb sie dann. Die Karlsruher Staatsanwaltschaft bleibt bei den Todesursachen vage: Eine unfallbedingte Knieverletzung "dürfte" zu einer Lungenembolie geführt haben! Die Heidelberger Rechtsmedizin schweigt dazu.
Und da ist der 18-jährige Arthur Christ, dessen verbrannte Leiche im Januar 2009 neben seinem Wagen gefunden wurde. Sein Name taucht in Ermittlungsakten im Zusammenhang mit der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter am 27. April 2007 auf. Für die Heilbronner Staatsanwaltschaft war angeblich nicht zu klären, ob es sich bei seinem Tod um Suizid handelt. Eines der Phantombilder vom Tatort der Ermordung von Michèle Kiesewetter ähnelt Arthur Christ.¹
Schließlich der faschistische V-Mann "Corelli" alias Thomas Richter: 18 Jahre lang war er eine äußerst ergiebige Quelle des "Verfassungsschutzes". Bis er 2014 erneut vom Bundeskriminalamt vernommen werden sollte, wozu es nicht mehr kam: Am 7. April 2014 wurde er tot in seiner Wohnung aufgefunden. Angebliche Todesursache laut Ermittlungsbehörden: Ein "ketazedonisches Koma" als Folge einer nicht behandelten Diabetes. Allerdings erkranken nur 2 Prozent aller Männer unter 49 Jahren an der Form von Diabetes, die bei "Corelli" tödlich geendet haben soll. Thomas Richter war zum Todeszeitpunkt 39 Jahre alt. Außerdem liegt die Todesrate bei einem solchen diabetischen Koma ohne Vorerkrankung unter 2 bis 5 Prozent.²
Die fünf toten potenziellen Zeugen im NSU-Komplex werfen Fragen auf: Wer hat ein Interesse daran, dass Wahrheiten über faschistische Netzwerke nicht ans Tageslicht kommen? Wem ist damit gedient, wenn mögliche Hintermänner und Tatbeteiligte an NSU-Morden unerkannt und straffrei bleiben? Vielmehr sieht vieles danach aus, dass die Verstrickung der Geheimdienste in die NSU-Aktivitäten noch viel größer war als bisher stückchenweise bekannt wurde.
Die plötzlichen Todesfälle potenzieller Zeugen im NSU-Komplex müssen lückenlos aufgeklärt werden!
¹) http://www.heise.de/tp/artikel/47/47412/1.html; http://taz.de/Erneut-moeglicher-Zeuge-gestorben/!5275907/
²) http://friedensblick.de/18528/interview-mit-mediziner-tod-von-nsu-informant-corelli...; eigene Recherchen, u.a. Gespräch mit einem Internisten.