Richtungskampf
Offene Regierungskrise in Berlin
Erst rund 100 Tage ist die mühsam installierte neue Große Koalition im Amt und schon bricht die von Beginn an latente Regierungskrise in Berlin offen aus.
Das Entsetzen in den bürgerlichen Medienkommentaren ist groß. Die wirklichen Hintergründe werden jedoch heruntergespielt oder missdeutet, als ob es ein rein persönlicher Machtkampf zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) sei, der sich im bayerischen Landtagswahlkampf profilieren wolle.
Dabei gibt es in Wahrheit kaum Unstimmigkeiten zum Gros der von Seehofer vorgelegten Verschärfungen im "Masterplan" seiner reaktionären Flüchtlingspolitik. Allenfalls und explosiv entzündet hat sich der Streit an der Frage, ob all die Flüchtlinge bereits an der Grenze abgewiesen werden sollen, die nach Gutdünken der Bundespolizei keinen Schutzstatus in Deutschland beanspruchen können.
Ultimatum an Merkel
Merkel will darüber auf dem EU-Gipfel am 28./29. Juni in Brüssel verhandeln, weil diese Frage auch EU-Bestimmungen berührt und sie statt Abschottung der deutschen unbedingt die Sicherung der europäischen Außengrenzen ins Zentrum stellen will. Die CSU-Spitze hat Merkel provokativ ein Ultimatum bis Montag zur Tagung des CSU-Vorstands gesetzt. Teile des "Masterplans" stünden „in der direkten Verantwortung des Bundesinnenministers“ und könnten daher in eigener Regie umgesetzt werden, so CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt.
Dieser provokante Widerstand gegen die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin ist bei allen aus Berlin bekannten Querelen ein Novum. Damit bleibt Bundeskanzlerin Merkel in einem solchen Fall nur die Wahl, entweder Seehofer aus der Regierung zu werfen und diese umzubilden oder sich zu unterwerfen, womöglich die Vertrauensfrage zu stellen und selbst zurückzutreten. So oder so - die Lunte am Pulverfass GroKo glimmt weiter.
Zwei taktische Grundrichtungen in der Rechtsentwicklung
Warum diese Zuspitzung, wenn sich Merkel und Seehofer über den "Masterplan" - dessen Details der Innenminister bisher geheimhält - doch weitgehend einig sind? In Wirklichkeit kulminiert der Kampf zwischen zwei taktischen Richtungen innerhalb der Rechtsentwicklung der Bundesregierung, vor allem an der Frage des Vorgehens der Herrschenden gegen den fortschreitenden fortschrittlichen Stimmungsumschwung in Deutschland.
Ganz nach dem Vorbild von US-Präsident Donald Trump (siehe auch Grundsatzrede von Gabi Fechtner vom 1.5.2017) setzen Seehofer und Teile der CSU-Führung um Markus Söder und Alexander Dobrindt auf eine ultrareaktionäre offene Repression verbunden mit sozialfaschistoider Demagogie als Betrugs- und Regierungsmethode.
- Dazu gehört die Verbreitung einer offen rassistischen, sexistischen und nationalistischen Weltanschauung zur Faschisierung und Spaltung der Gesellschaft. So wenn Söder frei nach Trumps "America first" sagt, man könne "nicht nur immer an ganz Europa" denken, gegen "Asyltourismus" hetzt oder nur noch Sachleistungen statt Geld an Flüchtlinge geben will, weil er gegen ein "Asylgehalt" sei. Fast tägliche Medienkampagnen zur Stimmungsmache gegen Flüchtlinge wie beim angeblichen "Asylmissbrauch" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sind maßgeblich vom Innenministerium gesteuert.
- Dazu gehört in der Außenpolitik Konfrontation und Aggressivität statt bisheriger bürgerlicher Diplomatie sowie provokative Aufgabe der Vertragstreue. Dafür steht die "Achse der Willigen", zu der sich Seehofer mit anderen Scharfmachern in europäischen Regierungen (von Ungarn bis Italien) zusammentun will, die bereits die nationalen Grenzen vollständig gegen Flüchtlinge abschotten.
- Dazu gehört die Unterminierung der bürgerlichen Gewaltenteilung, wie es von Seehofer mit dem Polizeiaufgabengesetz durchgepeitscht wurde. Es gibt der Polizei weitgehende willkürliche Befugnisse unter Umgehung von Gerichten. Schon jetzt werden in der polizeilichen Praxis Gerichtsurteile immer öfter ignoriert.
- Dazu gehört die Preisgabe bürgerlich-demokratischer Gepflogenheiten unter anderem in parlamentarischen Institutionen oder der Regierung, wenn die "engen Weggefährten" CDU und CSU sich mit gegenseitigen Drohungen, Verbalattacken, Schreierei und Verunglimpfung überbieten.
Merkels Politik "fortschrittlicher"?
Im Unterschied zu einer solchen Politik nationaler Alleingänge setzt die Bundeskanzlerin auf die sozialchauvinistische Propaganda zur Stärkung des imperialistischen EU-Blocks - als Antwort auf die provokative Sprengung der bisherigen Zusammenarbeit mit den USA durch Trump, wie zuletzt beim G7-Gipfel. Sie weiß genau, dass ein deutscher Alleingang die ohnehin brodelnde Krise der EU zum offenen Ausbruch bringen würde und die Gefahr ihres Auseinanderbrechens birgt.
Merkels Richtung ist also im Wesen keinen Deut fortschrittlicher als der Kurs der CSU-Spitze. Sie ersetzt den offenen Nationalismus durch europäischen Sozialchauvinismus, einschließlich forcierter Aufrüstung und militärischem Eingreifen in immer mehr Ländern. Sie setzt an die Stelle der Abschottung deutscher Außengrenzen die Abschottung der EU-Außengrenzen gegen Flüchtlinge. Mit der Folge, dass sie zu tausenden im Mittelmeer ertrinken oder in libyschen KZ's eingepfercht werden.
Merkel treibt - allenfalls im Ton moderater - ebenfalls die Rechtsentwicklung der Regierung in allen Bereichen voran und bekämpft den fortschrittlichen Stimmungsumschwung unter der Masse der Bevölkerung. Beide Richtungen stehen für die knallharte Durchsetzung der Interessen des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals.
Fortschrittlicher Stimmungsumschwung fordert Richtungskampf heraus
Seehofer hat mit seinem ultrareaktionären, faschistoiden Kurs empfindliche Niederlagen erlitten, die ihn offenbar in Zugzwang bringen. Gegen das bayerische Polizeiaufgabengesetz gab und gibt es breitesten Widerstand. Ebenso gegen die entsprechenden Pläne in Nordrhein-Westfalen. Dabei scheitert auch die von Scharfmachern wie dem NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Sebastian Fiedler, geforderte Ausgrenzung der MLPD und anderer vom Geheimdienst beobachteten Organisationen aus dem Anti-PAG-Bündnis.
Seehofers Kurs der offenen Repression von revolutionären Kräften wie der MLPD könnte nur um den Preis durchgesetzt werden, dass der verbreitete Nimbus ihrer angeblichen Bedeutungslosigkeit und ihre relative Isolierung durchbrochen werden.
In Kürze:
- Offene Regierungskrise in Berlin kann GroKo scheitern lassen
- In ihr kulminiert der Kampf zwischen zwei taktischen Richtungen in der Rechtsentwicklung der Bundesregierung
- Offensive der fortschrittlichen und revolutionären Kräfte dagegen zeigt Wirkung und muss höherentwickelt werden
Auf breite Ablehnung stoßen auch die von Seehofer geforderten "Ankerzentren" für Flüchtlinge. Kaum ein Bundesland will dabei mitmachen. Die Wirkung der manipulierten Medienkampagnen gegen Flüchtlinge und internationalistische Solidarität ist meist von kurzer Dauer. Die von Seehofer persönlich vom Zaun gebrochene Hetze gegen das Bamf bricht mittlerweile in sich zusammen.
Der einzige Belastungszeuge, auf den sich die Vorwürfe Seehofers stützen, stellte sich als unglaubwürdig heraus. Und die Zahl der angeblich zu Unrecht bewilligten Asylbescheide ist viel geringer als bisher behauptet - ohnehin handelte es sich in der Regel um Bewilligungen für Eziden, die jede individuelle Prüfung (allerdings dann in einem langwierigen und teuren Verfahren) bestanden hätten.
Mit die empfindlichste Niederlage erlitt Seehofer bei der Polizeiprovokation gegen MLPD und REBELL im Zusammenhang mit dem Rebellischen Musikfestival (siehe Bericht), die nach gesicherten Informationen ebenfalls auf sein Betreiben zurückging. Der Versuch, die taktische Offensive der MLPD beim Parteiaufbau in Thüringen zu stoppen, brach angesichts der sofortigen Organisierung einer breiten Solidarität, Gegenöffentlichkeit und Erringung der Meinungsführerschaft in der Solidarität der Masse der Bevölkerung in sich zusammen.
Auf wachsende Solidarität stößt auch die Kampagne gegen die Auslieferung des türkischen Revolutionärs Turgut Kaya durch die angeblich "linke" griechische Regierung an das faschistische Erdogan-Regime.
Die Herrschenden agieren aus der Defensive
Deshalb ist es auch ein Märchen, wenn Seehofer und Söder vorgeben, die Bevölkerungsmehrheit hinter sich zu haben. Auch wenn die Stimmungsmache in den Medien nicht ohne Wirkung bleibt und sich zum Beispiel 85 Prozent in einer YouGov-Umfrage für eine schnellere Abschiebung von Flüchtlingen aussprachen, stößt gleichzeitig die Abweisung des deutschen Hilfsschiffs Aquarius mit 629 Flüchtlingen an Bord durch die neue italienische Rechtsregierung auf helle Empörung.
In dieser entfalteten Diskussion sind viel Freude am Meinungsstreit, Initiative und restlos überzeugende Argumente gefragt. Daran setzt die von der MLPD begonnene Aufklärungskampagne über den Imperialismus, seine Wurzeln und sein Wesen an.
Neben dem fortschreitenden fortschrittlichen Stimmungsumschwung in Deutschland bringt auch die Verschärfung der zwischenimperialistischen Widerspruche vor allem durch den Übergang der US-Regierung zum offenen Handelskrieg, die allgemeine Tendenz der imperialistischen Kriegsvorbereitung und die Vertiefung der allseitigen Krisenhaftigkeit des imperialistischen Weltsystems den Richtungsstreit in der Regierung zur Kulmination.
Auch das zeigt, wie sehr die Herrschenden aus der Defensive heraus agieren. Umso mehr gilt es die Offensive aller demokratischen, antifaschistischen und revolutionären Kräfte gegen die Rechtsentwicklung der Regierung in jeder Ausprägung und in ihrer ganzen Bandbreite voranzutreiben.
Offensive gegen Polizeiaufgabengesetz
Ein Kristallisationspunkt, an dem kämpferische Arbeiter aus den Betrieben, die Masse der Jugend und der Migranten, die kämpferische Frauenbewegung, die antifaschistische Bewegung und viele, viele mehr ... ihre Kräfte bündeln können und müssen, ist der Kampf gegen die neuen Polizeigesetze und die in ihnen zum Ausdruck kommende neue Stufe der Faschisierung des Staatsapparats. Hier wird es in den nächsten Wochen zahlreiche örtliche Aktionen - unter anderem der Montagsdemo-Bewegung am 18. Juni - geben. Erster Höhepunkt wird die landesweite Demonstration gegen das Polizeiaufgabengesetz in Nordrhein-Westfalen am 7. Juli in Düsseldorf sein.
Die wichtigste Schlussfolgerung aus der zunehmend repressiven und außenpolitisch aggressiven Tendenz des Imperialismus ist die Stärkung der revolutionären Kräfte im Internationalistischen Bündnis und dabei vor allem von MLPD und REBELL.