Türkei
Zunehmend labile Entwicklung nach Erdoğans „Wahlsieg“
Unmittelbar nach seinem - mithilfe massiver Manipulationen und Repression erzielten - Wahlsieg, und der damit erlangten praktischen Befugnis zur Alleinherrschaft, hat das Regime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Kurs der faschistischen Unterdrückung verschärft.
Bei landesweiten Razzien wurden erneut über 18.500 Beamte entlassen und Hunderte Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird, der Gülen-Bewegung anzugehören, bzw. die zur linken Opposition zählen. Zwölf kritische Organisationen, drei Zeitungen darunter die pro-kurdische Zeitung Özgürlükcü Demokrasi und ein Fernsehsender wurden zwangsweise geschlossen.
Der Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP), an dem ein großer Teil der fortschrittlichen und revolutionären Bewegungen in der Türkei beteiligt war, hat Erdoğan offensichtlich vor Augen geführt, dass viele Menschen in der Türkei sein "Präsidialsystem" ablehnen. "Die HDP, an der ja nicht nur Kurden, sondern auch türkische revolutionäre, fortschrittliche, ökologische Organisationen und Initiativen beteiligt sind, ist ein gutes Beispiel, wie wichtig und zukunftsweisend es ist, bei nach rechts gerückten Regierungen alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte zusammenzuschließen; im gemeinsamen Kampf und zur Nutzung der Parlamentswahlen," so Gabi Fechtner, die Vorsitzende der MLPD, nach der Wahl.
In Kürze
- Nach seiner Wahl zum faschistischen Diktator hat Erdoğan direkt eine neue Verhaftungswelle anrollen lassen
- Erdoğans Wirtschaftsaufschwung war auf Pump gebaut.
- Steigende Preise vor allem auf Nahrungsmittel, lassen die Unzufriedenheit der Massen zusätzlich wachsen
Preise für Grundnahrungsmittel sind deutlich angestiegen
Zugleich reagiert die Erdoğan-Regierung weitgehend hilflos auf die krisenhafte Entwicklung der türkischen Wirtschaft. Die verschärfte Unterdrückung soll offenbar Furcht verbreiten. Denn der Unmut unter der Masse der Bevölkerung nimmt gerade wegen der aktuell schnell ansteigenden Inflation und zunehmenden Arbeitslosigkeit deutlich zu. Die Inflationsrate erhöhte sich seit April von 11 auf 15,5 Prozent, so hoch wie seit 14 Jahren nicht mehr. Besonders die Preise für Grundnahrungsmittel sind deutlich angestiegen.
Inflationstreibend wirkt der tiefe Fall der türkischen Währung Lira. Seit Jahresbeginn wertete die Lira rund 22 Prozent ab, im vergangenen Jahr etwa 30 Prozent gegenüber dem Dollar. Da viele Konsumgüter importiert und mit Dollar bezahlt werden müssen, erhöhen die Unternehmen parallel dazu deren Preise.
Wirtschaftsentwicklung auf Pump
Die Wirtschaft der Türkei wuchs seit 2001 schnell, kam auch 2010/11 relativ schnell aus der Wirtschaftskrise heraus und erzielte dann jährliche Wachstumsraten um durchschnittlich 7 Prozent bis 2015. Um diese Entwicklung - die letztlich im neuimperialistischen Charakter der Türkei mündete - nicht zu gefährden, nutzte die Regierung finanzielle Spielräume für Zugeständnisse gegenüber einem relativ großen Teil der Bevölkerung - eine Basis für Erdoğans Wahlerfolge. Diese Entwicklung war zu einem großen Teil auf Pump gebaut. Die Auslandsschulden verdreifachten sich bis 2018 auf über 500 Milliarden Dollar. Die Ausgaben des türkischen Staates übersteigen seine Einnahmen ständig und in steigenden Maß – um 55 Milliarden Dollar voraussichtlich in diesem Jahr. Der Wirtschaftsaufschwung kam ins Stocken, die Lira ins Trudeln.
Der fortschrittliche türkischsprachige Autor Yusuf Köse schreibt im Vorwort zur zweiten türkischen Ausgabe der Broschüre "Über die Herausbildung der neuimperialistischen Länder" von Stefan Engel: "Gestützt auf einen theoretischen Unterbau zeigt Stefan Engel anhand von allerlei statistischem Material auf, dass mittlerweile zu den alten imperialistischen Ländern mindestens 14 neue hinzugekommen sind. Dass auch die Türkei inzwischen ein neuimperialistisches Land ist, ist durch aktuelle Zahlen belegt. Insofern leistet das Buch einen bedeutenden Beitrag dazu, dass die Kommunisten und Revolutionäre der Türkei und Kurdistans ihre Strategie und Taktik zur Höherentwicklung des Kampfes des Proletariats für den Sozialismus weiterentwickeln und vertiefen können"
Erdogans "Ausweg" aus der Misere
Den Ausweg suchte Erdoğan darin, dass er die türkischen Staatskassen leert. Mit Steuersenkungen für Unternehmen, Maßnahmen zur Ankurbelung des Kreditwachstums und höhere Staatsausgaben will er die Konjunktur wieder in Schwung bringen.
Das gelang zunächst auch, doch nur um den Preis noch höherer Verschuldung. Der Inflation ist damit aber gar nicht beizukommen. Ein erheblicher Teil des Wachstums basierte gerade auf den, durch die Abwertung der Landeswährung Lira erleichterten, Exporten. Das verteuert umgekehrt aber die Importe des Landes - und treibt so die Inflation nach oben. Viele Firmen vor allem kleinere Firmen sind hoch verschuldet und erzielen deutlich weniger Profite als sie Schulden in Fremdwährungskrediten zurückzahlen müssen. Denn sie können angesichts der Stimmung im Land ihre wachsenden Kosten oft nicht entsprechend auf die Verbraucher abwälzen. Pleiten und Entlassungen häufen sich.
Schwiegersohn wurde zum Finanzminister
Zu Erdoğans ersten Entscheidungen gehörte, dass er sich per Dekret eine noch direktere Kontrolle über die Zentralbank verschaffte und sich erlaubte, den Zentralbankdirektor ernennen zu können. Seinen Schwiegersohn Berat Albayrak machte er außerdem zum Finanzminister. Erdoğan will die Zinsen weiter niedrig halten, um mit günstigen Krediten die Produktion anzukurbeln. Doch diese Maßnahme wird immer stumpfer. Wie die Unternehmen diese immer neuen Kredite, die oft in Dollar abgerechnet werden, zurückzahlen sollen, bleibt Erdoğans Geheimnis. Die niedrigen Zinsen treiben aber die Inflation weiter nach oben. Eine fatale Zwickmühle. Ergebnis wird eine weitere Zentralisation und Konzentration des Kapitals zugunsten türkischer und ausländischer Monopole sein - eine gerade für den Imperialismus typische Entwicklung.
Mit den billigen Krediten gedopt wächst die Wirtschaft zwar noch. Das ändert aber nichts an der zunehmenden Arbeitslosigkeit und Inflation. Die rapide Verschlechterung der Lage immer größerer Kreise der Bevölkerung untergräbt zusehends die Wirksamkeit der sozialen Demagogie Erdoğans. Er hat eine deutliche Verbesserung der Lebenshaltung versprochen, wenn er allein regieren kann. Die kräftig steigenden Preise und die wachsende Arbeitslosigkeit sind daher eine soziale und politische Zeitbombe.