München
#ausgehetzt: Außergewöhnlich breites Bündnis gegen Rechtsentwicklung
Nach wochenlanger Hitze und Dürre regnet es in München ausgerechnet heute in Strömen. Regnet ist gar kein Ausdruck. Es goss wie aus riesigen Kübeln. So wuchs die heutige Großdemonstration gegen die Rechtsentwicklung der Bundes- und der bayerischen Landesregierung erst allmählich: Von gezählten 18.000 am zweiten Haltepunkt über 20.000 bis zur vollen Größe bei der Abschlusskundgebung auf dem Königsplatz.
Auf den Königsplatz passen 35.000 Menschen und der Königsplatz war voll - und die umliegenden Straßen zusätzlich. Unter dem Motto "#ausgehetzt – gemeinsam gegen die Politik der Angst!" starteten zwischen 13 und 14 Uhr vier Demonstrationszüge mit verschiedenen Themenschwerpunkten. Einer nach dem andern mündete dann in eine gemeinsame Demo, die zur Abschlusskundgebung auf den Königsplatz zog. Der kämpferischen und fröhlichen Stimmung der Demonstranten tat das schlechte Wetter keinen Abbruch.
In Gesprächen in Wohngebieten und im Kollegenkreis hörten wir in den letzten Tagen immer wieder: "Ich war schon lange nicht mehr auf einer Demonstration, aber da geh' ich hin". Eine Freundin, Publizistin von Beruf, schrieb mir: "Wir gehen mit Kind und Kegel hin. Ich bin meiner Ma heute noch dankbar, dass sie mich als Kind mitgenommen hat auf die Demos gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Meine Kinder sollen lernen, was Widerstand ist und wie nötig er ist."
144 Organisationen und Parteien rufen auf
Die enorme Vielfalt der die Demo unterstützenden Initiativen, Organisationen und Parteien mit einem sehr großen Themenspektrum zieht entsprechend viele Menschen an. "Ich bin gegen das Polizeiaufgabengesetz und die gemeine Politik gegen Flüchtlinge. Aber mindestens genauso notwendig finde ich den Protest gegen unsere Arbeitsbedingungen und für eine Verbesserung dort. Das ist super, dass auch diese ganzen Fragen auf dieser Demo eine Rolle spielen", so eine Altenpflegerin.
"Wir wehren uns gegen die verantwortungslose Politik der Spaltung von Seehofer, Söder, Dobrindt und Co. Wir setzen ein Zeichen gegen den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft, den Überwachungsstaat, die Einschränkung unserer Freiheit und die Angriffe auf die Menschenrechte. Jetzt kommen wir! Unsere Vielfalt verbindet und macht uns stark! #bayernbleibtbunt", heißt es in dem Aufruf zu der bayernweiten Großdemonstration, die seit Wochen vorbereitet wird.
Auf 144 Organisationen ist die Zahl der Unterstützer inzwischen angewachsen: Menschen und Organisationen aus kirchlichen Kreisen, der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit, aus vielen Gewerkschaften und Sozialverbänden, Schulen und Universitäten, der Antikriegs- und Umweltschutzbewegung, dem Bayerischen Flüchtlingsrat, dem Internationalistischen Bündnis, aus SPD, GRÜNEN, MLPD, Linkspartei, der jungen Partei "mut", Jugendorganisationen wie REBELL, SDAJ, DGB-Jugend, Frauengruppen und -verbände, Leute aus der antifaschistischen Arbeit und dem Friedenskampf, Kulturschaffende und viele andere mehr.
Bandbreite der Demo ist Bandbreite der Widersprüche gegen die Rechtsentwicklung der Regierungen
"Die Demo ist aus dem Schock heraus entstanden, wie sich derzeit in der Politik die Sprache und auch Aktionen verroht haben", sagt Heike Martin vom Organisationsteam, "wie gegen Menschen tatsächlich vorgegangen wird, auch sprachlich, und das ist etwas, was bei weitem nicht mehr nur Flüchtlinge betrifft, sondern das betrifft die gesamte Gesellschaft."
Die Initiatoren kritisieren, dass die bürgerlichen Parteien, allen voran die CSU, sich zum Teil in ihrer Politik und ihrer Sprache bei den Ultrarechten und Faschisten bedienen: "Geflüchtete werden kriminalisiert, in Abschiebelagern interniert, in Kriegsgebiete abgeschoben und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer werden diffamiert („AntiAbschiebe-Industrie“/Dobrindt). Statt Bildung und Aufklärung zu fördern und Kriminalstatistiken ehrlich zu kommunizieren, werden massiv Ängste geschürt und in Bayern das schärfste Polizeiaufgabengesetz (PAG) in Kraft gesetzt, das die Bundesrepublik je gesehen hat. Statt soziale Probleme wie Pflegenotstand, Altersarmut und prekäre Arbeitsverhältnisse zu lösen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und einen gerechten Mindestlohn durchzusetzen, werden kulturelle Scheindebatten geführt wie Söders Kreuz-Erlass oder Islam-/Leitkultur-Debatten."
Dabei kommt im Aufruf und unter den Demonstranten auch der Gedanke auf: "Jetzt reicht's. Bis hierher und nicht weiter". Die Rechtsentwicklung stoppen ist das Richtige daran. Den "Rechtsstaat" gegen die übergriffigen Seehofer und Söder verteidigen zu wollen ist hingegen eine illusionäre Losung. Auch ohne Seehofer und Söder ist der Staat in Deutschland nicht demokratisch und gerecht, sondern ein Instrument zur Unterdrückung der Massen. Darüber gab es viel Diskussionsbedarf.
SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter ließ es sich nicht nehmen, zu den Demonstranten zu sprechen. Er griff die ultrareaktionäre CSU-Politik an, tat dabei aber so, als ob die SPD eine Alternative sei. Am 14. Oktober ist Landtagswahl in Bayern. Was hat denn die SPD all die Jahre gemacht? Politik für die "kleinen Leute", wie Reiter beifallheischend tönte? Nein, mit der Agenda 2010 hat doch die Regierung unter dem SPD-Kanzler der Enteignung der "kleinen Leute" Tür und Tor geöffnet - und was macht die SPD in der Regierungskoalition mit CDU/CSU?
Für Emil Bauer, Sprecher der Landesleitung Bayern der MLPD, ist diese Demo in ihrer Vielfalt eine starke Sache. "Es wird deutlich, wie viele Menschen an wie vielen Fragen große Widersprüche gegen die Rechtsentwicklung der Regierungen in Bayern, in Deutschland, in der EU und anderen Ländern haben. Trotz des schlechten Wetters füllen sich Münchens Straßen und Plätze mit Zehntausenden, die gegen diese Rechtsentwicklung aufstehen. Ein ermutigendes Signal! Die MLPD unterstützt die Demo mit aller Kraft. Wir setzen uns besonders dafür ein, das Internationalistische Bündnis zu stärken und Mitglieder für MLPD und Rebell zun gewinnen. Es gibt dafür ein großes Potenzial. Diese Demo ist auch der geeignete Ort, um kontroverse Fragen zu besprechen. Die MLPD tritt dafür ein, weiter zu denken als das Grundgesetz erlaubt und die Perspektive einer von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Gesellschaft ins Auge zu fassen. Diese Protestbewegung darf nicht dabei stehen bleiben, Söder, Seehofer und Dobrindt zu attackieren. Die Wurzel der ganzen Übel, die hier kritisiert werden, ist der Kapitalismus. Den müssen wir abschaffen!"
Trifft den Nerv fortschrittlich bewegter Menschen
Marion Schmidt vom Internationalistischen Bündnis in München , das zu den Erstunterzeichnern und aktiven Unterstützern der Demo gehört, begrüßt die heutige Demonstration sehr. "#ausgehetzt trifft den Nerv der fortschrittlich bewegten Menschen. Schluss mit der Rechtsentwicklung! Diese Demo ist eine große Verbindung vieler Protestbewegungen. Die reaktionäre Flüchtlingspolitik und der Widerstand gegen die Unterstützung des faschistischen Erdogan-Regimes durch die Bundesregierung waren der Anfang. Jetzt haben sich aktive Gewerkschafter eingereiht und ihre Anliegen eingebracht. Es geht gegen Sozialabbau, gegen das Polizeiaufgabengesetz, für Frauenrechte. Das Internationalistische Bündnis tritt internationalistisch und kämpferisch auf und wirbt dafür, dass sich die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte noch enger zusammenschließen."
Die vier Auftaktkundgebungen verdeutlichen die Vielfalt des Demo-Bündnisses:
- Gegen reaktionäre Flüchtlingspolitik, Rassismus und Krieg
- Nein zum Polizeiaufgabengesetz
- Gegen Wohnungsnot, Altersarmut, Pflegenotstand, prekäre Arbeitsverhältnisse
- Gleichbehandlung aller Geschlechter und sexueller Identitäten
Vom ersten Demozug berichtet ein Korrespondent telefonisch: "Eine junge Frau aus der Flüchtlingsarbeit - sie unterrichtet an einer Schule für Migrantenkinder - moderiert sachkundig die Auftaktkundgebung. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, dass die Behandlung von Flüchtlingen als Menschen zweiter Klasse aufhört. Die MLPD unterhält in diesem ersten Demozug, in dem das Internationalistische Bündnis einen starken Block bildet, ein offenes Mikrofon mit vielen lebendigen Diskussionen. Der Zehn-Punkte-Masterplan für eine fortschrittliche Flüchtlingspolitik im neuen Rote Fahne Magazin kommt wie gerufen. Viele Gespräche werden geführt. Gerade unter Jugendlichen kommen die revolutionären Positionen der MLPD, ihr Eintreten für den echten Sozialismus, gut an."
Der Frauenverband Courage und das Bündnis 8. März prangern bei der Auftaktkundgebung 4 an, dass Frauenmorde, wenn sie von Asylbewerbern begangen werden, medial krass ausgeschlachtet werden, um Gesetzesverschärfungen durchzubringen und gegen alle Geflüchteten zu hetzen. Im Schnitt wird in Deutschland jeden Tag eine Frau umgebracht – und der gefährlichste Ort ist die eigene Wohnung. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Kampf für das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung. Weltweit sind durchgekämpfte Rechte in dieser Frage inzwischen im Fokus: in Polen entstand eine starke Frauenbewegung, Irland hat einen Volksentscheid gewonnen. In Deutschland tut sich die AfD im Verein mit sogenannten Lebensschützern besonders hervor. Dieser Paragraf 219 muss weg, gleich im Paket mit dem § 218.
Theo Reichel vom Verein matteo aus Coburg berichtet, dass immer noch neun Millionen Menschen in der Flüchtlingshilfe aktiv sind. Rassismus kommt nicht aus der "Mitte der Gesellschaft", sondern von AfD und CSU! Simone Burger vom DGB München - ebenfalls mit von der Partie - kritisiert auf einer Pressekonferenz vor einigen Tagen, dass derzeit viel zu wenig über soziale Fragen wie Rente, Wohnen, Altersarmut gesprochen wird. Die Angriffe hier betreffen Flüchtlinge und einheimische Bevölkerung gleichermaßen und gemeinsam muss man sich dagegen wehren.
CSU macht ihrem Ruf als Hetzer alle Ehre
Zu den Unterstützern der Demo gehört auch der Intendant der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal. Der CSU-Fraktionsvorsitzende im Münchner Stadtrat trat dafür ein, Lilienthal dieses Engagement zu verbieten. SPD-Oberbürgermeister Reiter gab dem Antrag nicht statt. Daraufhin entblödete sich die Münchner CSU nicht, heute früh großflächig die Münchner Straßen mit einem eilig gedruckten Plakat zu verschandeln: "Ja zum politischen Anstand - Nein zu #ausgehetzt". Politikern einer Partei, die ihrem Vorsitzenden die Abschiebung von 69 Flüchtlingen zum 69. Geburtstag schenkt, muss der Begriff "politischer Anstand" doch glattweg im Halse stecken bleiben!
Kulturvolle Abschlusskundgebung und dann Podiumsdiskussion
Auf dem Königsplatz findet eine kulturvolle Abschlusskundgebung statt. Man watet zwar im Schlamm, aber sehr gute kaberettistische und musikalische Beiträge entschädigen dafür. Nur wenige Leute außerhalb Bayerns kennen die aufmüpfige neue bayerische Volksmusik, etwa der Express Brass Band und der Landlergschwister. Und jetzt beginnt in wenigen Minuten im Eine Welt Haus die Veranstaltung des Internationalistischen Bündnisses mit hochkarätigem Podium - darunter die Vorsitzende der MLPD, Gabi Fechtner.