Massenproteste
Russland nach dem Sommermärchen – Widerstand gegen Putin wächst
Vier Wochen lang verfolgten Millionen von Menschen begeistert die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Die Putin-Regierung missbrauchte sie allerdings nicht nur zur Selbstdarstellung, sondern auch für die Durchsetzung weitgehender Angriffe auf die Arbeiter und breiten Massen.
Im ganzen Land wächst seit Wochen der aktive Widerstand gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters für Frauen von 55 auf 63 und für Männer von 60 auf 65 Jahre, die am 20. Juli während des ersten Gruppenspiels der russischen Mannschaft völlig unerwartet verkündet worden war. Ein Genosse der ICOR-Organisation Marxistisch-Leninistische Plattform berichtet:
In Kürze:
- Allein in Moskau gingen am 28. Juli 100.000 Menschen auf die Straße
- Auch in vielen anderen Städten gab es Demonstrationen
- Im Zentrum steht die Verteidigung des bereits 1932 in der sozialistischen Sowjetunion unter Stalin festgesetzten Renteneintrittsalters
„In der Russischen Föderation fand während der Fußball-Weltmeisterschaft ein brutaler Angriff auf die verbliebenen Errungenschaften der Werktätigen statt. Wahrscheinlich wird der Rubel noch weiter abgewertet. Auch wurde nicht einfach nur das Renteneintrittsalter angehoben.
Für viele Menschen ist der gesamte privat angesparte Rentenanteil einfach verschwunden. Das ist im Kern eine Rentenkürzung. Die am 1. Juli um zwei Prozent gestiegene Mehrwertsteuer drückte sich sofort in einer Preissteigerung für Benzin um bereits 20 Prozent aus.“
Errungenschaft des sozialistischen Aufbaus
Auf besondere Empörung stößt, dass zukünftig vor allem Männer kaum mehr den Renteneintritt erleben, denn die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland beträgt für Männer etwa 67 und für Frauen rund 77 Jahre.
Das bisher geltende Renteneintrittsalter - eines der weltweit niedrigsten - wurde bereits 1932 in der sozialistischen Zeit der Sowjetunion unter Stalin festgesetzt. Es ist eine Errungenschaft des sozialistischen Aufbaus, den sich bürokratisch-kapitalistischen und neuimperialistischen Machthaber bis vor Kurzem nicht anzutasten trauten. Auch das ist ein Grund für die große Kampfbereitschaft in der Bevölkerung.
Protestwelle schon während der WM
Obwohl während der Weltmeisterschaft das Versammlungs- und Demonstrationsrecht im Land weitestgehend eingeschränkt wurde und an den Austragungsorten starke Kräfte von Polizei, Geheimdienst und der Bürgerkriegseinheiten OMON zusammengezogen waren, entwickelte sich eine landesweite Protestwelle. Am 1. Juli fanden in 30 Städten Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Rentenbeschlüsse statt.
Am vergangenen Samstag, 28. Juli, kam es zu noch größeren Massenprotesten in zahlreichen Städten Russlands - organisiert vor allem von Gewerkschaften und linken Kräften, unter anderem der Marxistisch-Leninistischen Plattform und der RKRP1, die ebenfalls mit der MLPD zusammenarbeitet. In einem aktuellen Artikel auf der Homepage der RKRP wird über die Aktion in St. Petersburg berichtet:
Breites Spektrum von Teilnehmern am 28. Juli
"Auf dem Lenin-Platz vor dem Finnischen Bahnhof an der Newa versammelten sich über 5.000 Menschen, einfache Werktätige verschiedenen Alters und verschiedener Berufe, um ihre Meinung zur menschenverachtenden Rentenreform zum Ausdruck zu bringen, die von der Staatsregierung betrieben wird. Obwohl die Kundgebung von der KPRF2 angemeldet worden war, nahm eine Vielzahl politischer Organisationen aus verschiedenen politischen Spektren an ihr teil, von Kommunisten bis zu Liberalen.
Darunter auch die Leningrader Organisation von RKRP und ROT FRONT3, die schon früher, Ende Juni, eine Kundgebung zur Rentenreform in Kirowsk im Leningrader Gebiet durchgeführt hatten. Aktivisten verbreiteten die Zeitung 'Trudowaja Gaseta', die ihnen von den Werktätigen buchstäblich aus den Händen gerissen wurde.
Der erste Sekretär des Leningrader Komitees von RKRP und ROT FRONT, S.S. Malenzow, rief die Anwesenden in seiner Rede dazu auf, sich der revolutionären Traditionen der russischen Arbeiterklasse zu erinnern. ... Genosse Malenzow sprach sich im Namen der Partei für einen breiten, massenhaften Volksprotest gegen die Reformen aus."
Aufschwung der Kämpfe fällt nicht vom Himmel
Dieser Aufschwung der Kämpfe fällt nicht vom Himmel, sondern hat seine Grundlage in den politischen Massenprotesten vom Mai, als in rund 90 Städten Menschen gegen Putin und die Einschränkung demokratischer Rechte unter der Losung „Er ist nicht unser Zar!“ auf die Straße gingen.
Immer wieder kommt es im ganzen Land zu Streiks und Protesten von Arbeitern wegen ausbleibender Löhne oder Entlassungen. Bereits im Rahmen der Feierlichkeiten zu 100 Jahre Oktoberrevolution im letzten Herbst und im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom März hatte die staatliche Unterdrückung linker und revolutionärer Kräfte bis hin zu Hausdurchsuchungen und Verhaftungen massiv zugenommen. So wurde auch die Präsidentschaftskandidatur der Arbeiterin Natalja Lisizyna von der RKRP für das Wahlbündnis ROT FRONT durch gezielte Schikanen behindert.
Die Festigung des Klassenbewusstseins drückt sich nicht allein in tagespolitischen Fragen aus wie der Erhöhung des Renteneintrittsalters, die von 80 Prozent der russischen Bevölkerung eindeutig abgelehnt wird4, und wogegen rund jeder zweite Russe zu einer Teilnahme an Protestaktionen bereit ist.
Große Sympathie für Oktoberrevolution und sozialistische Zeit
Eine viel größere Gefahr für den russischen Imperialismus ist die hohe Anziehungskraft, die von der Perspektive einer sozialistischen Revolution ausgeht. In einer aktuellen Umfrage vom Juni bringen 50 Prozent aller Russen den Führern der Oktoberrevolution und des sozialistischen Aufbaus, Lenin und Stalin, eindeutige Sympathie entgegen5.
Um Entwicklungen wie dem aktuellen Aufschwung von Massenprotesten eine klare revolutionäre Orientierung zu geben und den Massen zu helfen, den revisionistischen Verrat am Sozialismus ausgehend vom XX. Parteitag der KPdSU zu verarbeiten sowie mit der zersetzenden Wirkung der bürgerlichen Ideologie fertig zu werden, ist der Aufbau einer starken marxistisch-leninistischen Partei in Russland entscheidend. Daran arbeiten verschiedene - unter anderem in der ICOR organisierte - Kräfte intensiv.