Tunesien

Tunesien

"Die Fahnen fehlten!"

Der erlebnisreiche people-to-people-Urlaub im Norden Tunesiens führt natürlich auch auf die Spuren des "Arabischen Frühlings". Das ist übrigens ein Begriff, den die progressiven Menschen in Tunesien nicht mögen: "Das legt nahe, dass der Aufstand mit einem Frühlingserwachsen endete," sagt Nidal, unser Reiseleiter. "Dabei endete er in einer bitteren Niederlage."

Monika Gärtner-Engel

Eine Menschenrechtsaktivistin, die uns begleitet, war in den entscheidenden Wochen von Anfang bis Ende auf dem historischen Platz vor den Regierungsgebäuden - Kasbah. Sie organisierte, diskutierte und dokumentierte das Geschehen. Am Ende ihres Berichtes bricht sie in Tränen aus: "Es war eine "gestohlene Revolution" ... Warum?

Spannender Geschichtsunterricht

Wir erleben spannenden Geschichtsunterricht bei der Führung durch die Altstadt, einem arabischen Kaffee über ihren Dächern - und dann beim Besuch des Platzes vor den zahlreichen Regierungsgebäuden und Ministerien, Kasbah. Dort spielten sich die beiden Höhepunkte des Aufstands 2010/11 ab. Genannt Kasbah I und Kasbah II.

 

Kasbah I kennzeichnet die Massendemonstrationen, die - ausgelöst durch eine verzweifelte Selbstverbrennung - vom 18.12. 2010 bis 14.1.2011 stattfanden. Die Massen strömten zusammen, erhoben ihre Forderungen nach Würde, Arbeit, demokratischen Rechten und Freiheiten, Frauenrechten usw. Diesen Massendemonstrationen gegen die Regierung des Diktators Ben Ali mit bis zu 200.000 Leuten wurde mit brutaler Polizeigewalt begegnet.

 

Ben Ali flieht am 14.1. Aber weiter wurden Menschen erschossen, inhaftiert, gefoltert. Dem hielten das Bewusstsein, die Klarheit und die Organisiertheit bei aller sprunghaft gewachsener Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative nicht stand. Die Massenversammlungen und Demonstrationen lösen sich auf, die Menschen ziehen sich zurück, fahren nach Hause ...

Kein Problem gelöst, keine Forderung erfüllt

Doch es dauert keine zwei Wochen und sie sind wieder da. Denn kein Problem ist gelöst, keine Forderung erfüllt. Ein regelrechter Zustrom nach Tunis aus allen Landesteilen setzt ein. Die Leute organisieren Busse, laufen zig Kilometer zu Fuß, aus allen Stadtteilen kommen sie. Kasbah füllt sich wieder, mehr als je zuvor.

 

Die Angst vor der Repression ist gewichen. Tag und Nacht wird diskutiert, gekämpft. Massendiskussionen und -demonstrationen sind das bestimmende Moment. Gemeinsam wird das Leben organisiert, gekocht, Spenden werden gebracht - und es reicht für alle.

Mittendrin die Revolutionäre

Mitten in der riesigen Menschenmasse die Marxisten-Leninisten, die Revolutionäre. Sie sind wesentlich beteiligt an der Entwicklung der Kämpfe und des Bewusstseins über Jahrzehnte. Brotaufstand, Studentenrevolten, der große Kampf um die Frauenrechte, bedeutende Streiks der Phosphatbergleute und der Petroleumarbeiter ...

 

Sie mussten unter Ben Ali illegal arbeiten, bekommen Einfluss - aber Masseneinfluss, Meinungsführerschaft ohne demokratische Rechte ist kaum erreichbar. Rückblickend sagen sie: Auf diesen qualitativen Sprung, diese Massen waren wir nicht vorbereitet! Wir diskutierten, organisierten, hielten Ansprachen. Viele Menschen hörten von uns zum ersten mal vom Sozialismus, Kommunismus oder einer befreiten Gesellschaft.

 

Aber wir gingen unter in der Menge. "Es fehlten die Fahnen", sagt Nidal, "allein schon, um uns sichtbar zu machen und Anlaufpunkte zu schaffen. Denn die Leute wollten massenhaft kommen, hören, Klarheit erhalten, sich organisieren ... " Die Atmosphäre der Solidarität, des Kampfeswillens, der Todesverachtung, der Kultur steigerte sich und schrie regelrecht nach perspektivischer Führung.

Die gestohlene Revolution - und die Lehren

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes, erst kaum merklich, aber hochorganisiert und von langer Hand vorbereitet: Führer der Muslimbrüder kommen aus dem Exil und verbinden sich mit den im Untergrund langfristig vorbereiteten Strukturen der islamistischen Kräfte, massiv logistisch und finanziell unterstützt wurden sie von Katar, den USA, Frankreich und VOR ALLEM von der Türkei. Die AKP ist die führende Kraft in der internationalen Vereinigung der Muslimbrüder.1

 

"Wir sagten den Leuten: organisiert euch, ihr müsst z.b. um Arbeitsplätze kämpfen! Die muslimbrüder sagten ihnen: Hier hast du ein paar Tausender, mache dein Projekt und schließe dich uns an. Das erschien natürlich der leichtere Weg."

 

Er knüpfte an niedrigem Klassenbewusstein, traditionellen Gefühlen und reaktionären religiösen Wurzeln an. Diese massiv von außen beförderte Strömung verwirrte und zog auch an. So schwoll die Massenbewegung zwar vom 10.2. bis 26.2. weiter an - am 26.2. waren auf der größten Demonstration 1 Million Menschen. Die Übergangsregierung muss am 27.2. ebenfalls zurücktreten. Doch der revolutionäre Kampfeswille ist von innen zersetzt, verwirrt und fehlgeleitet. Und so braucht es zur Auflösung von Kasbah II keine Polizei und keinen offenen Terror.

 

Doch die Lehren werden gezogen, nicht zuletzt durch die ICOR-Partei PPDS, breite Bündniszusammenschlüsse und das Flagge-Zeigen in den vielfältigen Arbeiter-, Frauen- und Menschenrechtskämpfen, denen wir in dem wunderschönen Land immer wieder begegnen.

 

PS: Kommentar zur Kurzmeldung über Medienpräsenz. "Tunesische Freunde berichten strahlend am Freitag 28.9.: Wir haben die MLPD groß im Fernsehen gesehen! Wo? 'Bei France 24'."