Großbritannien
Machtprobe um Brexit eskaliert
In Großbritannien gab es am Samstag landesweite Massendemonstrationen gegen den Plan von Premierminister Boris Johnson, das Parlament zwei Monate vor dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens für vier Wochen zu suspendieren.
Allein in London beteiligten sich rund 100.000 Menschen. Proteste gab es aber auch in allen größeren Städten des Landes. Die Demonstranten riefen „Stop the Coup“ ("Stoppt den Putsch") und „Boris out“ ("Boris raus"). In der Kritik stand vor allem das diktatorische und undemokratische Vorgehen Johnsons, der ankündigte, parlamentarische Beschlüsse gegen seinen "No Deal"-Brexit mit allen Mitteln zu verhindern und zu "missachten".
Er wurde als „Trumps Marionette“ verhöhnt, was sich gegen die von Johnson anvisierte engere taktische Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus unter der ultrareaktionären, faschistoiden Regierung von Donald Trump richtet. US-Außenminister Mike Pence besucht am Mittwoch für zwei Tage London, um dieses neue imperialistische Zweckbündnis vorzubereiten.
Allerdings agiert Johnson dabei keineswegs als "Marionette", sondern verfolgt die eigenständigen Interessen des britischen Imperialismus und der aggressivsten Teile des britischen Finanzkapitals - um an der Seite der US-Monopole eine stärkere Rolle im weltweiten Konkurrenzkampf zu spielen. Das wird allerdings die Widersprüche eines solchen neuen aggressiven Blocks zu den anderen imperialistischen Ländern der EU und zu den neuimperialistischen Ländern weiter verschärfen.
Machtprobe spitzt sich zu
Der „Brexit ohne Wenn und Aber“, den Johnson am 31. Oktober unter Ausschaltung des Parlaments durchpeitschen will, ist jedoch bereits wieder weitgehend in Frage gestellt. Am Dienstagabend erzwangen die Abgeordneten des Unterhauses mit 328 zu 301 Stimmen, dass heute über einen Gesetzesentwurf zu einer Brexit-Verlängerung bis 31. Januar 2020 abgestimmt wird.1 Damit wäre der Weg offen, mit der EU erneut über den Austrittsvertrag zu verhandeln, der von der Mehrheit im Parlament bisher abgelehnt wurde.
Allerdings hatte die EU-Kommission schon mehrfach signalisiert, dass sie ihr Diktat gegenüber Großbritannien ohne Abstriche durchsetzten will. Durch das Überlaufen des Konservativen Philip Lee zu den EU-Befürwortern der Liberaldemokraten war die Abstimmung möglich geworden, bei der auch 21 Abgeordnete der konservativen Tories gegen ihren Regierungschef stimmten, obwohl er ihren Parteiausschluss androhte und ankündigte.
"Alle sollen gehen!"
Falls das Gesetz beschlossen wird, will Johnson Neuwahlen beantragen, wofür er eine Zweidrittelmehrheit braucht. Mit Eilbeschlüssen wollen Abgeordnete das wiederum verhindern. Das Parlament selbst greift mittlerweile zu Methoden, die in der britischen parlamentarischen Demokratie nicht vorgesehen sind. Die These von einer "Verfassungskrise" bestätigt sich immer mehr.
In Großbritannien entwickelt sich eine Krise aller bürgerlichen Institutionen: der Regierung, des Unter- und des Oberhauses, der bürgerlichen Parteien usw. Das ist Ausdruck der wachsenden Zerrissenheit der herrschenden Klasse und ihrer Vertreter im Parlament angesichts wachsender wirtschaftlicher Probleme, der Verschärfung der zwischenimperialistischen Widersprüche, der Krise der EU, ihrer eigenen schwindenden Massenbasis und der sich entfaltenden Massenproteste. Dazu passt die immer öfter auftauchende Losung "Alle sollen gehen".
Wirtschaftliche Entwicklung verstärkt Nervosität der Herrschenden
Zusammen mit dem niedrigeren Wirtschaftswachstum in der EU und in China, der Verschärfung des Handelskonfliktes zwischen China und USA und der Unsicherheit über den Brexit sanken in Großbritannien die Investitionen im vierten Quartal 2018 um 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg gerade noch um 0,2, im Sommer noch um 0,6 Prozent. Nachdem viele Unternehmen Vorräte an Produkten anlegten, stieg das BIP vorübergehend im ersten Quartal 2019 um 0,5 Prozent. Im zweiten Quartal ging die Produktion um 2,3 Prozent zurück.
Das britische Pfund erlitt gegenüber dem Euro einen Verlust im Wechselkurs und fiel auf 1,1034 Euro im Jahresvergleich zurück (4. September). Es wirkt sich in den Investitionen aus, dass Nissan, Philips und andere Monopole sich aus Großbritannien zurückziehen. Airbus droht, Tragflächen woanders herzustellen.
"Lernen, auf die eigene Kraft zu vertrauen"
Die drängenden Probleme der Massen wie wachsende Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, sinkendes Lohnniveau, Abbau von Sozialleistungen, Umweltzerstörung und wachsende Kriegsgefahr sind weder mit der EU noch in einem Bündnis mit dem US-Imperialismus zu lösen. Umso wichtiger ist es, dass sich die Arbeiterklasse und die breiten Massen in Großbritannien einen unabhängigen Standpunkt erkämpfen. Es ist eine Situation, in der sie ihr eigenes Programm auf die Tagesordnung setzen und dafür in die Offensive gehen müssen.
Dazu gehören Losungen wie „Rebellion gegen die imperialistische EU“, mit der die MLPD sich als Teil der Internationalistischen Liste / MLPD an der Europawahl 2019 beteiligte. Aber auch "Konsequent für Arbeiterinteressen", "Wir gehen mit keiner Fraktion der Herrschenden" oder "Hoch die internationale Solidarität". In diesem Sinne müssen auch die Kräfte mit marxistisch-leninistischem und revolutionärem Anspruch in Großbritannien verstärkt tätig werden.
In einem Interview schreibt die Communist Party of Great-Britain (Marxist-Leninist): „Die Lektion für die Arbeiter ist klar. Die hochgelobte 'britisch-parlamentarische Demokratie' ist tatsächlich eine Täuschung, bezogen auf die Arbeiter. Sie ist eine 'Demokratie für die Reichen', nicht für die Massen, die solange wählen dürfen, bis das Ergebnis für die Herrschenden passt. … Die Arbeiter müssen inzwischen lernen, auf die eigene Kraft zu vertrauen, und daran arbeiten, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der ihre Interessen wirklich an erster Stelle stehen.“