Israel / Palästina
„Welche Israel-Kritik ist antisemitisch?“
Omri Boehm, aufgewachsen in Israel und Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York, hat die Frage: „Welche Israel-Kritik ist antisemitisch?“ in einem wichtigen Gastbeitrag von "sz-online" vom 26. Mai aufgeworfen.
Ist derjenige ein Antisemit, der die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel kritisiert? Der nicht einverstanden ist mit der Annexion palästinensischer Gebiete unter Netanjahu? Fast jede Kritik an Israels Politik wird inzwischen mit dem Bannstrahl des „Antisemitismus“ versehen. Damit muss sich seit einiger Zeit auch die MLPD auseinandersetzen. Sie wird von einigen Antikommunisten wahrheitswidrig als „antisemitisch“ beschimpft.
Antisemitismus ist die Ideologie der Judenverfolgung, des Massenmordes an Juden unter Hitler, der wütenden Pogrome gegen Juden seit dem Mittelalter. Boehm formuliert als bisherigen Konsens unter Demokraten: „Antisemitisch war es, das Existenzrecht Israels als jüdischer und demokratischer Staat infrage zu stellen“. Das hat die MLPD zu keinem Zeitpunkt getan, und sie tritt für eine Zweistaatenlösung auf dem Weg zu einem einheitlichen, demokratischen Land ein. Aber, so Boehm, „heute kann man sich auf diese Formel nicht mehr guten Gewissens berufen: Die Zweistaatenlösung ist tot, Israels Regierung will Gebiete im Westjordanland annektieren.“
Der reale Antisemitismus gewinnt Boden bei der Rechten, nicht bei der politischen Linken, so die klare Aussage von Boehm. Eine ganze Reihe von ultrareaktionären bis faschistischen Regierungschefs, von Donald Trump über Viktor Orbán, Matteo Salvini, Jair Bolsonaro bis zu Rodrigo Duterte wurden und werden in Israel, sogar in Yad Vashem, ehrenvoll empfangen. Woher die neuen Freundschaften – u.a. mit einem Donald Trump, der mit Hakenkreuzen demonstrierende Neofaschistischen als „gute Leute“ bezeichnete?
Was diese Leute verbindet, ist ihre menschenverachtende, rassistische Weltanschauung von Menschen erster und zweiter Klasse. Das ist eine wesentliche ideologische Begleitmusik für Ausbeutung, Verfolgung und Unterdrückung. Fast die Hälfte der Bevölkerung Israels sind Palästinenser – aber die Besatzungspolitik der Netanjahu-Regierung folgt einem „ethnischen Nationalismus“ gegen die Palästinenser, wie es Boehm ausdrückt. Ein solcher „ethnischer Nationalismus“ kommt in verschiedensten Varianten daher. Wenn Trump den Rassismus wieder befeuert, wenn er die Trennung von Migrantenfamilien und das Einsperren ihrer Kinder rechtfertigt; im rücksichtslosen Umgang von Victor Orbán und Matteo Salvini mit Flüchtlingen usw..
Das gipfelt in der fast absurd erscheinenden Einheit zwischen Leuten um Netanjahu und der AfD. Boehm berichtet von einem Tweet von Yair Netanjahu, dem Sohn des Ministerpräsidenten, zur EU, die eine Sanktionsliste gegen Israel wegen der Annexionen im Westjordanland vorbereitet: „Schengen ist tot. Die globalistische EU hoffentlich auch bald. Dann wird Europa wieder frei, demokratisch und christlich.“ Das, so Boehm, „läuft auf die Installierung einer antiliberalen Ordnung hinaus, in der jüdische Bürger nicht gleichberechtigt Platz haben.“ Dieses „frei, demokratisch und christlich“ wurde von der AfD erfreut aufgegriffen. Boehm: „Offensichtlich verwenden Netanjahu und Teile der AfD dieses Motiv in der Hoffnung auf die Befreiung Deutschlands vom 'muslimischen Einfluss'. Die Ausweitung auf die Juden stört sie nicht…
Die tiefere Botschaft der AfD ist klar: Selbstverständlich hat Israel das Recht, ein jüdischer und demokratischer Staat zu sein, alles andere wäre antisemitisch. Wieso sollte es also unrechtmäßig sein, wenn die Deutschen auf genau dasselbe hoffen? Was spricht dagegen, dass die Deutschen dem israelischen Modell nacheifern und ihr Land als christlichen und demokratischen ethnischen Nationalstaat definieren? Die AfD und Netanjahu sind der Ansicht: Deutschland sollte genau das tun.“
Die kritischen Stimmen gegen die „Antisemitismus“-Keule mehren sich, der Beitrag von Omri Boehm ist eine davon. Er schließt damit, nicht die Augen zu verschließen vor der rechten Gesetzgebung in Israel oder dem antisemitischen Ethnonationalismus in den USA und Europa – denn das helfe nicht Israel und entspreche auch nicht einem verantwortungsvollen Umgang mit der deutschen Vergangenheit.