Traumata
Zum Fertigwerden mit Traumatisierungen
"Rote Fahne News" erhielt von der Tübinger Psychologin und Psychotherapeutin Ulrike Held einen Diskussionsbeitrag zum Leserbrief vom 22. Juli, „Sexuelle Gewalt, lebenslanges Trauma?“
Als Psychotherapeutin fühle ich mich sehr geehrt, dass mir zugetraut wird, selbst tiefste Traumata „vollständig aufzulösen“. Danke für die Ehre, aber leider, leider kann ich mich mit diesen Lorbeeren nicht schmücken. Eben jene Hirnforschung, auf die der Leserbriefschreiber sich beruft, stellt fest, dass unser Gehirn durch unsere Erfahrungen in unserer Umwelt - bereits im Mutterleib beginnend - geprägt und geformt wird, auf der Grundlage der genetischen Möglichkeiten. Und Erfahrungen, die wir einmal gemacht haben sind nicht einfach „vollständig aufzulösen“.
In frühester Kindheit von den eigenen Eltern missbraucht und für brutalste körperliche und sexuelle Gewalt an fremde Männer verkauft, ins Netz gestellt zu werden, bedeutet Folter und führt zu einer komplexen Traumatisierung. Was mit diesen Kindern passiert, ist so schrecklich, dass ich es hier nicht schildern will. Die Täter ergötzen sich an den Schmerzensschreien der Gefolterten. Die Kinder werden manipuliert, halten sich selbst für dreckig, schuldig, sind voller Scham. Sie müssen mit z.T. bleibenden körperlichen Schäden fertig werden, die ihnen durch die brutale Gewalt zugefügt wurden. Die Betroffenen erleben keine normale Kindheit, mit Freunden spielen und lernen. Sie werden absichtlich isoliert, bedroht mit Gewalt und Tod gegen sich oder Angehörige oder das geliebte Haustier, damit sie ja nichts erzählen. Die Folgestörungen sind nicht eine einfache Posttraumatische Belastungsstörung, sondern Persönlichkeitsstörungen, dissoziative Störungen, Angst und Panikattacken, Depressionen, Suizidalität, somatische und psychosomatische Störungen und Sucht.
Einige landen später in der Prostitution (eine Frau sagte mir, „das kann ich, das ist das einzige, was ich gelernt habe“). Nur wenige schaffen es, einen normalen Alltag mit Beruf, Familie und Freunden aufzubauen und auszuhalten. Und all das soll einfach mal aufgelöst werden? Durch die Feststellung im Leserbrief vom 22. Juli, "dass das menschliche Gehirn als die am höchsten organisierte Materie auf der Erde mithilfe entsprechender Psychotherapien in der Lage ist, selbst tiefste Traumata vollständig aufzulösen" wird die Tiefe der Verletzungen und Folgen im Kern geringgeschätzt und verharmlost. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen – weltweit betrachtet – hat überhaupt Zugang zu psychotraumatherapeutischer Behandlung. In Deutschland ist die Behandlung stundenmäßig so beschränkt, dass das Kontingent niemals ausreicht für die Behandlung komplex traumatisierter Patienten, und es gibt viel zu wenig Behandlerinnen und Behandler mit spezieller Ausbildung.
Die Psychotherapie ist nur ein Baustein in dem Fertigwerden mit der Traumatisierung. In der Traumatherapie geht es darum, zu lernen, die schrecklichen Erfahrungen zu verarbeiten, den Alltag zu stabilisieren, mit Hilfe von Übungen mit den Folgestörungen immer besser fertig zu werden und evtl. auch lebenslang gegen Folgeschäden anzugehen. Ein Monotrauma oder weniger komplexe Traumatisierungen können mit Hilfe von Traumakonfrontation gut verarbeitet werden, anders sieht es dagegen mit komplexen frühen Traumatisierungen aus.
Mit dem Ausdruck „Lebenslang traumatisiert“ in der Bildunterschrift des Artikels in der Roten Fahne 15 „Unfassbare sexuelle Gewalt an Kindern“ wird deutlich, dass bei Entwicklungstraumata – so nennt man die sequentiellen (sich immer wieder wiederholenden) Traumata in der Kindheit – lebenslange Schäden bleiben, körperlich und psychisch. Und alles Psychische ist auch körperlich.
Die Täter dagegen werden selten erwischt, bekommen lächerliche Strafen im Verhältnis zu dem Leid, dass den betroffenen Kindern angetan wird. Die Betroffenen zeigen oft eine beeindruckende Stärke in ihrem Überlebenskampf. Es gibt auch den Begriff des Posttraumatischen Wachstums. Damit ist gemeint, dass wir in der Auseinandersetzung mit den Traumata neue Kräfte entwickeln, wie z.B. Zähigkeit, Durchhaltevermögen, Überlebenswillen und Kampfkraft. So können einige auch aus eigener Kraft und mit Hilfe unterstützender anderer Menschen mit den Folgen einer Traumatiserung fertig werden. Psychotherapie kann Hilfe zur Selbsthilfe anbieten, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist eine wesentliche Grundlage zur Heilung. Besonders stärkend ist, wenn sie sich in den weltweiten Befreiungskampf einreihen. Sie brauchen dabei unsere volle Solidarität und Unterstützung. Die Erwartung "die Psychotherapie wird’s schon richten" führt in die Sackgasse.