Russland
Stellungnahme der RKRP zu den Protesten in Russisch-Fernost (volle Länge)
Am 17. Juli 2020 veröffentlichte die RKRP auf ihrer Homepage eine Stellungnahme des Ersten Sekretärs von RKRP und ROT FRONT der Region Chabarowsk, S.W. Silwko, zu den Massenprotesten in der Stadt Chabarowsk und weiteren Städten in Russisch-Fernost anlässlich der Verhaftung des Gouverneurs Sergej Furgal.
Ich bin und wir sind – Sergej Furgal?
Über den Prozess gegen den Gouverneur der Chabarowsker Region. Am 9. Juli 2020 wurde der Gouverneur der Chabarowsker Region, Sergej Furgal, verhaftet und nach Moskau verbracht. Das Gericht von Basmannij verhängte gegen ihn die Maßnahme der Untersuchungshaft und verlegte ihn in Einzelhaft im Gefängnis Lefortowo. Furgal wird der Beteiligung an Auftragsmorden in den Jahren 2004 bis 2005 beschuldigt. Am 11. Juli beteiligten sich Zehntausende Bürger der Stadt Chabarowsk (nach verschiedenen Angaben zwischen 5000 und 7000 und 230.000 Menschen) an nichtgenehmigten Kundgebungen, denen sich die Bürger weiterer Städte, Kleinstädte und sogar großer Siedlungen anschlossen.
Die Protestaktionen wurden am 12., 13. und 14. Juli fortgesetzt. Die Losungen der Protestaktionen waren „Ich bin und wir sind Sergej Furgal!“, „Freiheit für Sergej Furgal!“, und „Gebt uns unseren Gouverneur zurück!“. Nicht wenige der Protestierenden werten die Verhaftung Furgals als Rache der Föderationsregierung und von „Einiges Russland“ für seine Wahl zum Gouverneur im Jahre 2018 und die Verwirklichung einer Politik im Interesse der Bewohner in der Region. Die Situation ist jedoch weitaus komplizierter.
Die Verhaftung des Gouverneurs ist zweifellos ein von der Präsidialadministration genehmigter politischer Zug der Herrschenden. Und die Beschuldigung zur Organisierung von Auftragsmorden ein Vorwand zur Beseitigung Furgals vom Posten des Gouverneurs. War er darin verwickelt oder nicht? Das muss eine Untersuchung entscheiden, die sich auf Fakten stützt, und nicht allein auf die Aussagen einzelner Personen. Über Furgals Verbindungen zur kriminellen Unterwelt hat die landesweite und regionale Presse in den Jahren von 2000 bis 2010 mehr als einmal berichtet. Jeder, der mit der Geschichte der Restauration des Kapitalismus in den 1990er Jahren vertraut ist, weiß, welche Rolle kriminelle Strukturen dabei gespielt haben. Während seiner Zeit als Abgeordneter der Staatsduma war einer der Helfer Sergej Furgals das Oberhaupt einer mächtigen Bandidtenorganisation, Michail Timofejew. Auf das Konto seiner Bande gehen Erpressung, Mord, Sprengstoffanschläge, Raubüberfälle, Entführungen, Schutzgelderpressung.
Alle schweren Verbrechen in der Region stehen mit dieser Bande in Verbindung
Laut Untersuchung stehen alle schweren und hochkarätigen Verbrechen in Chabarowsk mit eben dieser Bandidenorganisation in Verbindung, zu der bis zu 300 „Kämpfer“ gehörten. Im Jahr 2013 wurde Timofejew zu acht Jahren Straflager verurteilt, viele Kriminalfälle mit seiner Beteiligung werden bis heute untersucht. Interessant ist aber etwas anderes. Es ist schwer vorstellbar, dass die Herrschenden einen hochrangigen Politiker einfach „übersahen“, der Abgeordneter der Regionalduma von Chabarowsk war, für ganze drei Legislaturperioden zum Abgeordneten der Staatsduma gewählt wurde, eine Arbeitsgruppe zur Gesundheitspolitik leitete und mehrfach an den Gouverneureswahlen der Region Chabarowsk teilnahm. Vielmehr waren ihnen viele der zwielichtigen Episoden in der Biographie des Spitzenfunktionärs der LDPR bekannt, ebenso wie ähnliche Episoden von Tausenden weiterer Politiker anderer Parteien (vor allem von Einiges Russland), welche die heutige politische Elite bilden und das Gesicht des heutigen politischen Systems darstellen. Eine andere Sache ist es, wer „da oben“ den Befehl gab, das kompromittierende Material nun so zu verwenden, wie es geschah. Aber warum kam es dazu? Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Schauen wir sie uns an.
Meinung 1
„Sergej Furgal ist ein unbeugsamer Oppositionspolitiker, und die Führung von Einiges Russland in Moskau beschloss, ihn loszuwerden.“ Der verhaftete Gouverneur war zu keinem Zeitpunkt ein unbeugsamer Oppositionspolitiker, weder vor noch nach seiner Wahl als Gouverneur. Allein der Charakter der Partei LDPR, mit welcher Furgals gesamte politische Biographie verbunden ist, schließt jedwede Opposition Furgals aus. Während seiner gesamten Zeit als Abgeordneter der Staatsduma haben Furgal und alle Fraktionen ihre wesentliche Funktion erfüllt: nämlich immer wann nötig dem Präsidenten und „Einiges Russland“ den Rücken zu stärken als Gegenzug für ihre Finanzierung aus dem Staatshaushalt, die Möglichkeit der Lobbyarbeit für verschiedene Geschäftsbereiche, und auch für das Recht, Einiges Russland hin und wieder ausreichend laut kritisieren zu dürfen, um so politisch Punkte bei den Wählern zu sammeln und so den Anschein einer Demokratie in Russland zu erwecken. Schauen wir uns die Fakten an.
In den fünf Jahren seiner Zugehörigkeit zur 6. Staatsduma (2011-2016) enthielt sich Sergej Furgal bei 48,1% der behandelten Gesetze. Die Zustimmung des Abgeordneten fanden 51% der behandelten Gesetze. Mit „Nein“ stimmte Furgal nur bei 0,9% der Gesetze, die in der Staatsduma behandelt worden waren. Diese Zahlen sprechen für sich. Die Wahl von Furgal zum Abgeordneten der Staatsduma im Jahr 2016 wurde möglich dank der Partei "Einiges Russland", die in Absprache mit der LDPR keinen eigenen Kandidaten im 70. Wahlbezirk (Komsomolsk) aufstellte, und ihren Parteimitgliedern P. Simigin und G. Malzew hohe Posten im Gegentausch zu ihrem Verzicht auf die Wahlbeteiligung anbot. Am Tag nach seiner Wahl in die Staatsduma dankte die LDPR dem regionalen Wahlkomitee für seine gute Arbeit, und der Gouverneur der Region und Mitglied von „Einiges Russland“, W. Schport, äußerte, dass "Einiges Russland" und die LDPR bereit sind, ihre Anstrengungen zu bündeln und sich hierdurch zu stärken.
Während seiner Tätigkeit als stellvertretender Vorsitzender und Vorsitzender des Komitees der Staatsduma für Gesundheitspolitik in den Jahren 2015-2018 übernahm Furgal zum Teil die Verantwortung für die „Optimierung“ (und faktisch die fortgesetzte Zerschlagung) des russischen Gesundheitswesens und dessen Kommerzialisierung. Gemeinsam mit allen Fraktionen stimmte Furgal mehrfach für die Bestätigung Dmitrij Medwedjews als Regierungsoberhaupt. Furgals Tätigkeit in der Staatsduma wurde durch ihren Vorsitzenden Boris Gryslow mit einer Ehrenurkunde ausgezeichnet (2008 „für einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Gesetzlichkeit und des Parlamentarismus in der Russischen Föderation“) und mit einer Danksagung der Regierung der Russischen Föderation (2017 „für Verdienste in der gesetzgeberischen Tätigkeit und jahrelange gewissenhafte Arbeit“).
Nach seiner Wahl zum Gouverneur ließ Sergej Furgal seine Mitgliedschaft in der LDPR ruhen, betrieb in der Region die Politik der Föderationsregierung und ließ keine Zweifel an seinen Prioritäten. Es sind keine Fälle bekannt, in denen er den Präsidenten oder die Regierung der Russischen Föderation öffentlich kritisiert, die Tauglichkeit der Politik der Föderationsregierung für den Fernen Osten bezweifelt oder sich gegen Moskau gestellt hätte. Der Gouverneur rief aktiv dazu auf, für die Verfassungsänderung zu stimmen und unterstütze die Linie Moskaus vorbehaltlos. Jedoch … an der Abstimmung beteiligten sich 44%, mit „Ja“ stimmten 62,2%, mit „Nein“ 34,64%. Das war eines der niedrigsten Ergebnisse im ganzen Land. Das Protestpotential der Region deckte sich nicht mit den Positionen des Gouverneurs. Einen Grund, Furgal der unbeugsamen Opposition zu verdächtigen, haben wir daher nicht. Sergej Furgal ist ein Systempolitiker, der Karriere in einer der bürgerlichen Parteien machte und von der Welle der Protestwahlen von 2018 in die Exekutive gespült wurde.
Meinung 2
„Mit der Verhaftung von Sergej Furgal rächt sich Moskau an der Region Chabarowsk für den Eigensinn der Bewohner der Region, die 2018 ihn wählten, anstatt den regierenden Gouverneur Schport.“ Tatsächlich wurde nach der Wahl Furgals zum Gouverneur die Hauptstadt von Fernost nach Wladiwostok verlegt, wo es der Föderationsregierung nach dem Skandal der Annullierung der Gouverneurswahlergebnisse doch noch gelang, ihren Schützling Oleg Koshemjako durchzusetzen. Aber welche Rolle spielte Furgal dabei?
Die Gouverneurswahlen in der Region Chabarowsk von 2018 zeigten keine Außergewöhnlichkeiten und schienen nach dem folgenden Szenario abzulaufen: die Wahlkommission bestätigt den amtierenden Gouverneur Schport und einige Alibikandidaten, um den Anschein eines Wahlkampfs zu erwecken, und dann wird Schport, der mit einem Ergebnis von 51-55% politisch an Gewicht verloren hat, bei einer geringeren Wahlbeteiligung Gouverneur infolge dessen, dass man Beamte des öffentlichen Dienstes und des Machtapparats in die Wahllokale gejagt hatte. Einer der Kandidaten, die dazu berufen waren die Illusion von Demokratie aufrecht zu erhalten, war Sergej Furgal, der im Jahr 2013 an den Gouverneurswahlen teilgenommen hatte und damals 19,1% der Stimmen erhielt. Jedoch verlief die Situation nicht nach dem Szenario der Kreml-Technokraten: Schport erhielt im ersten Wahlgang nicht nur nicht mehr als 50% der Stimmen, sondern landete auf dem zweiten Platz (35,62%) hinter Sergej Furgal (35,81%). Und im zweiten Wahlgang gaben 69,57% der Wähler Furgal ihre Stimme. Wie war das möglich? Es gibt einige Faktoren:
Die völlige Diskreditierung des sogenannten „Teams Schport“ und der Partei "Einiges Russland" aus folgenden Gründen:
- Schulden bei privaten Banken in Milliardenhöhe, für deren Bedienung ein erheblicher Teil des regionalen Etats verwendet wird;
- die Zerrüttung des produktiven Sektors, der Bankrott von regionalen Industrie- und Landwirtschaftsbetrieben, die Verschlechterung des Transportwesens, der Preisanstieg;
- Korruptionsskandale und die Inhaftierung von Ministern der Region wegen Amtsvergehen;
- die Abschaffung von Vergünstigungen für Rentner, Invaliden und Kinder aus kinderreichen Familien für Fahrkarten durch die Regionalregierung im Jahr 2016, was in Chabarowsk zu Massenprotesten führte;
- die Aufblähung des Beamtenapparats, die Einrichtung neuer Regionalministerien mit einem ausufernden Staat und wachsenden Ausgaben für dessen Unterhalt (Ministerium für den Fernen Osten, Justizministerium, Ministerium für Innenpolitik und weitere);
- wachsende Ausgaben aus dem Staatshaushalt für den Unterhalt hoher Beamter (für Gehälter und Boni nach Renteneintritt, gigantische Pensionen und weitere Vergünstigungen), darunter auch mit Luxusgütern: teure ausländische Autos der Premiumklasse, teure Ausstattungen der Arbeitszimmer, Unterhalt von Urlaubsyachten für die regionalen Beamten;
- die andauernde Darstellung des Gouverneurs Schport in allen regionalen Massenmedien, was einen gegenteiligen Effekt zur Folge hatte;
- Verringerung der Lebensqualität und infolgedessen der Wegzug der Bevölkerung aus der Region.
Die Politik der Föderationsregierung und der Partei "Einiges Russland", die deren Inhalte bestimmt und der Schport und sein „Team“ angehörten. Die Unzufriedenheit der Bewohner der Region mit den Herrschenden wurde noch dadurch verstärkt, dass 2018 auf Föderationsebene eine Rentenreform durchgeführt und mit der das Renteneintrittsalter angehoben wurde. Der Anstieg des Mehrwertsteuersatzes und die Erhöhung der Steuern auf Kraftstoffe hatten eine Preissteigerung zur Folge. Die Reaktion der Bewohner der Region auf die Politik der Regionalregierung, die durch die Agenda der Föderationsregierung noch verstärkt wurde, bildete den Hintergrund für die Protestwahlen. „Wer auch immer, aber nur nicht Schport und Einiges Russland.“ Aber wenn nicht Schport, wen dann?
Von allen Kandidaten für das Gouverneursamt, mit Ausnahme des amtierenden Gou-verneurs Schport, war Furgal der stärkte Konkurrent. Er verfügte über eine ausreichende Bekanntheit zu Beginn des Wahlkampfs, Erfahrung durch die Teilnahme an vorhergehenden Gouverneurswahlen, ein solides Wahlkampfbudget (das Budget von Schport betrug etwa 31 Millionen Rubel, das von Furgal 10 Millionen, das der anderen jeweils weniger als eine halbe Millionen), ein ausreichend populistisches und einfaches Programm, und er inszenierte sich als bereit zum Dialog mit allen Bürgern und politischen Kräften. Im öffentlichen Bewusstsein wurde so das Muster eines gebildeten und erfolgreichen Politikers geschaffen, der bereit ist, sein parlamentarische Erfahrung und sein Gewicht in den Strukturen der Föderation zum Wohle der Bewohner der Region einzusetzen, der bereit ist, die Schlüsselprobleme der Region zu lösen. Gerade deshalb waren viele Wähler mit Proteststimmung bereit, für Furgal zu stimmen, ungeachtet dessen Parteizugehörigkeit: „Nur nicht Schport, es kann nicht schlechter werden, nur besser!“
Für Furgal selbst kam der Erfolg im ersten Wahlgang unerwartet, mehr noch: allein die Tatsache eines zweiten Wahlgangs machte ihn bereits automatisch zum Sieger: die Zunahme der Wahlbeteiligung, die Protestwahl der Bürger für den Rivalen Schports. In den zwei Wochen, die zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang lagen, wurde versucht, auf Furgal Druck auszuüben für einen freiwilligen Verzicht auf den Wahlkampf, und zu einem bestimmten Zeitpunkt unterschrieb er sogar eine Erklärung, in der er sich für die Möglichkeit aussprach, im Team von Schport im Falle seines Wahlsiegs zu arbeiten, aber … Ein Verzicht auf den zweiten Wahlgang hätte einen Gesichtsverlust und den politischen Tod bedeutet. Umso mehr, als dass der Sieg im ersten Wahlgang eine Begeisterung bei Geschäftsleuten der Region hervorrief, die sich nicht an Moskau orientierten und auf eine größere Unterstützung für ihre Interessen seitens Furgal hofften, dessen Familie erhebliches Eigentum in der Region besitzt. Das, sowie die Unterstützung durch die Führung der LDPR gaben den Ausschlag, und Furgal verzichtete nicht auf die Wahlbeteiligung. Die Wahl von Furgal zum Gouverneur ist weniger das Verdienst von Furgal selbst, als vielmehr die Antwort der Bevölkerung der Region auf die Politik von Einiges Russland und die Unzufriedenheit mit dem „Team Schport“. Aber das Amt des Gouverneurs ist erobert, die Wahl ist gewinnen, es ist Zeit, sich an die Arbeit zu machen … Was nun?
Meinung 3
„Sergej Furgal ist ein Gouverneur des Volkes! Er vertrat die Interessen der einfachen Menschen der Region, und dafür wurde er verhaftet.“ Seiner Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse nach ist Sergej Furgal bei weitem kein einfacher Mensch, sondern ein Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite, ein Großkapitalist nach regionalem Maßstab und Eigentümer einer ganzen Reihe von Unternehmen (durch Mitglieder seiner Familie). Im Jahre 2011, nach der ersten Legislaturperiode in der Staatsduma, besaß Sergej Furgal 50% der Aktiengesellschaft Alkuma, 50% der Aktiengesellschaft Chabarowskmetalltorg, 50% der Aktiengesellschaft Mif-DW und 50% der Aktiengesellschaft Dalpromsnab. Womit befassen sich diese Firmen? Mit dem Handel mit Holz, Metall und den Naturteichtümern des Fernen Ostens. Im Januar 2017 übernahm Furgals Familienunternehmen Torex-Chabarowsk die Kontrolle über das Werk Amurmetall. Hier, ohne Berücksichtigung seiner Familie, die Angaben aus offiziellen Quellen allein über die Einkünfte und das Eigentum Furgals im Jahre 2015, als er noch Abgeordneter war:
- Verdienst im Jahre 2015 4 735 000 Rubel;
- Landbesitz - Drei Landgüter: 1. in der Region Chabarowsk, 1 000 m²; 2. im Bezirk Moskau, 2 500 m²; 3. im Bezirk Moskau, 2 000 m².
- Wohnhäuser - Drei Wohnhäuser: 1. in der Region Chabarowsk, 328,1 m²; 2. in der Region Chabarowsk, 66,2 m²; 3. im Bezirk Moskau, 627,2 m²
- Wohnungen - Drei Wohnungen: 1. in der Region Chabarowsk, 29,9 m²; 2. in der Region Chabarowsk, 47,7 m²; 3. in der Region Primorje, 76,9 m²
- Automobile - Zwei Transportmittel: Pkw, Lexus LS600H, Baujahr 2008; Pkw, Lexus GX 460, Baujahr 2011
Daher sind die Interessen Sergej Furgals vor allem die Interessen seines Geschäfts und, weiterhin, der regionalen Wirtschaft, die in seiner Person einen Vertreter ihrer Interessen fand. Obendrein veränderte sich das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der regionalen politischen Elite, die eng verbunden ist mit den Wirtschaftskreisen des Fernen Ostens und der Hauptstadt. Die Situation verschärfte sich durch die Wahlen 2019, als "Einiges Russland" die Mehrheit im Regionalparlament verlor und Mitglieder der LDPR die Mehrheit der Abgeordneten stellte, die als „Team Furgal“ in die Wahlen gegangen waren. Mit anderen Worten, die wirtschaftlichen und politischen Kreise Moskaus sahen die Gefahr der Schwächung ihrer Kontrolle über die Finanzströme und die Verteilung der Gewinne und des Verlustes der gewohnten Mechanismen der Verwaltung des Gebietes durch „ihre“ Strukturen.
Die Wahl Furgals zum Gouverneur und die darauf folgenden Ereignisse wurden zu dem Faktor, der nicht in das übliche Schema der Verhältnisse passte: das Mosaik verkomplizierte sich dadurch, dass ihn ihm Steinchen aus einem anderen Mosaik auftauchten und das Gesamtbild nicht so aussah, wie man es erwartet hatte.
Als wesentlichen Grund kann man auch die Verteilung von Interessen der Oligarchenfamilie Rotenberg im Fernen Osten ansehen, darunter auch an dem Furgal gehörenden Unternehmen Amurstal. Der Widerstand hiergegen erregte den Unwillen des Oligarchen und führte wahrscheinlich zur Verhaftung Furgals, da die enge Beziehung Arkadi Rotenbergs zu Präsidenten Putin allgemein bekannt ist. Somit kann man also den Hauptgrund für die Verhaftung Furgals als einen Konflikt in den Wirtschaftskreisen ansehen, der mit politischen Methoden gelöst wurde. Die politischen Gründe für die Verhaftung selbst sind unzweifelhaft, aber sie sie sind eng verflochten mit einem Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen der herrschenden Klasse.
Wodurch zeichnet sich die Politik Furgals aus, im Vergleich zu seinen Vorgängern? Äußerlich und im Besonderen unterscheidet sie sich erheblich. Der mit der Welle von Proteststimmen gewählte Furgal gab sich während der zwei Jahre im Amt des Gouverneurs gegenüber den Menschen als ziemlich offener und sympathischer Politiker. Live-Berichte, konsequente Transparenz seiner Arbeit durch das populäre Instagram-Profil (mit mehr als 200 000 Abonnenten), öffentliches „Auspeitschen“ von beschuldigten Beamten, was auf Video mitgeschnitten und im Netz veröffentlicht wurde … Furgal kürzte die Ausgaben für den Unterhalt der Regionalregierung durch die Auflösung der von Schport geschaffenen Ministerien, stellte die Aufgabe des Verkaufs von Luxusgütern, welche die Bilanz der Regionalregierung belasteten, und kürzte seine Bezüge. Mit anderen Worten, er schaffte die offensichtlichen Neuerungen seines Vorgängers von Einiges Russland ab, die allgemeine Unzufriedenheit hervorgerufen hatten. Den Fortschritt bei der Lösung von Problemen betrogener Schuldner und die Preissenkung bei Flugtickets für Bewohner der nördlichen Regionen kann man, neben einigen teilweisen Änderungen, ebenfalls als das Verdienst des Gouverneurs ansehen. Aber heißt das, dass er ein Gouverneur des Volkes ist und die Beamten im Zaum hält?
Ich gebe ein Beispiel. Bei einem Treffen Sergej Furgals mit Führern der politischen Parteien Ende 2019 wurde ihm die Frage gestellt, wann denn nun tatsächlich die von ihm versprochene Gehaltskürzung bei den höchsten Beamten der Region kommt, worauf hin er die folgende Antwort gab (alles gut festgehalten im Protokoll, das im Apparat des Gouvernements aufbewahrt wird, ich gebe den allgemeinen Sinn wieder): „Ich kann natürlich den Ministern das Gehalt auf 40 bis 50 Tausend kürzen, aber dann verlassen sie die Regierung, und wir verlieren qualifizierte Spezialisten. Wer wird ihre Plätze einnehmen? Menschen mit weniger Verantwortung, mit geringerer Qualifikation.
Im Jahre 1917 gab es schon einmal den Aufruf, die Macht der Köchin zu übertragen, und wir alle erinnern uns, womit das geendet hat. Ich meine, dass von den Verwaltungsbeamten zwar nicht alles, aber doch fast alles abhängt, und wir können den Weg der Gehaltskürzung nicht gehen.“
Als es dann zur Rede des Autors dieser Zeilen kam, sagte er folgendes: „Im Jahre 1917 setzte sich keine einzige politische Partei in Russland das Ziel, die Macht der Köchin zu übergeben. Wenn Sie da an die Bolschewiki denken, so war deren grundlegende politische Losung 'Alle Macht den Sowjets!', und die Bolschewiki forderten, das Gehalt der Beamten nach den durchschnittlichen Bezügen eines Facharbeiters zu bemessen.
Was das Zitat W.I. Lenins über die Köchinnen angeht, wäre es für Sie sicher nützlich, sich mit dem Originalzitat vertraut zu machen, da Lenin sich gegen die Verwandlung des Beamtentums in eine eigene geschlossene Kaste wandte und über die Schaffung von Bedingungen dafür sprach, dass die breite Masse der Werktätigen die Leitung des Staats übernehmen kann.
Sie sagten, dass die Region qualifizierte Verwaltungsbeamte braucht. Aber braucht sie etwa keine qualifizierten Arbeiter, Lehrer, Ärzte, Ingenieure und viele andere? Warum sollen sie für 15 bis 20 Tausend Rubel im Monat arbeiten, aber der Durchschnittslohn der Region für die Beamten unannehmbar sein? Das sind doppelte Standards!“
Was hat sich seit 2018 verändert?
Und dann, was hat sich seit 2018 im Wesentlichen geändert? Eine breite Koalition unter Einbeziehung der verschiedenen politischen Kräfte in der Region wurde nicht geschaffen – in der Regionalregierung sehen wir nur Vertreter von Einiges Russland (Mitglieder des „Teams Schport“) und Vertreter der LDPR. Bei den Wahlen 2019 zum Regionalparlament gab es einen Rekord bei Ablehnung der Registrierung von Kandidaten verschiedener politischer Parteien, worauf der Gouverneur hingewiesen wurde, welcher aber keinerlei Schritte dagegen unternahm. Am 1. September 2018 betrug die Verschuldung der Region Chabarowsk 51,6 Milliarden Rubel. Die Kommunen der Region nahmen Kredite in einer Gesamtsumme von 3,7 Milliarden Rubel auf.
Zum 1. Juni 2020 hatte sich die Verschuldung der Region Chabarowsk vergrößert und betrug 57,9 Milliarden Rubel. Die Kommunen hatten in dem Jahr der Amtsführung Furgals als Gouverneur ihre Kredite auf 3,97 Milliarden Rubel erhöht. Übrigens war die Senkung der Verschuldung der Region eines der wesentlichen Wahlversprechen Furgals. Darunter war auch die Senkung von Mieten der kommunalen Wohngesellschaften, aber diese Mieten sind in der Region zwei Jahren lang nur gestiegen. Ein weiteres Wahlversprechen war die Schaffung von guten Lebensverhältnissen, um den Wegzug der Bevölkerung zu senken. Nicht eingelöst!
Die Verringerung der Bevölkerung ist, trotz des Zustroms von Migranten aus den Republiken Zentralasiens, weiterhin sehr spürbar. Die regionale Industrie und Landwirtschaft haben keinerlei wirklichen Entwicklungsimpuls erhalten. Die Beschäftigten im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, Arbeiter und Ingenieure, mit anderen Worten, die werktätigen Schichten fühlen sich nicht mehr vertreten. Ihre Einkünfte sind nicht gestiegen, und die Rechtlosigkeit vor dem Arbeitgeber blieb so, wie sie schon unter Schport war. Mit anderen Worten, eine spürbare Veränderung gab es nicht, das Wesen der Herrschenden blieb wie zuvor. Im Übrigen konnte es auch kaum anders sein – der Gouverneur ist fest eingebunden in die Umsetzung der staatlichen Politik der Föderation, und wenn es eine Abkehr von dieser geben haben sollte, dann nur in unbedeutenden Teilfragen, was an der Ausrichtung und den Zielen nichts ändert. Daher ist die These, dass die Verhaftung Furgals mit dessen Vertretung der Interessen der einfachen Menschen zusammenhängt, ebenfalls mehr als zweifelhaft.
Die Proteste, zu denen es nach der Verhaftung Sergei Furgals kam, zeigen die Bereitschaft der Bewohner der Region Chabarowsk zu solidarischen Aktionen, und das kann einen nur freuen. Die Menschen gingen trotz alledem auf die Straße und äußerten ihren Willen. Während die „Freiheit für Sergej Furgal“ und „Wir sind für Furgal“ skandieren und den Gouverneur damit idealisieren, protestierten sie gegen die Politik der Föderationsregierung zum Fernen Osten, vertraten ihre Interessen, nicht Einiges Russland wählen zu müssen, standen auf gegen die Verfassungsänderung, gegen Erniedrigung und Verschlechterungen des Lebensstandards, gegen die offizielle Lüge vom allgemeinen Wohlstand. Auf den Kundgebungen wurden neben den wirtschaftlichen auf soziale und politische Forderungen laut.
Doch bis zur Formulierung konkreter Forderungen mit sozialökonomischem und politischem Charakter ging der spontane Protest nicht und konnte auch kaum gehen. Und solange das nicht passiert, solange der Kampf nicht vom „Gebt uns den Vertreter zurück, den wir gewählt haben, auch wenn er nicht ideal ist und eines Verbrechens beschuldigt wird“ übergeht zum „Wir fordern die Achtung und Erweiterung unserer politischen und ökonomischen Rechte“, wird sich diese Situation wiederholen.
Wenn nicht die Verhaftung eines Gouverneurs, sondern die Beamtenwillkür gegen die einfachen Menschen, die Entlassung von Arbeitern durch die Unternehmen oder der Protest gegen die Ausbeutung am Arbeitsplatz solche massenhaften Protestaktionen hervorruft, dann entsteht die Hoffnung auf eine Änderung der Situation. Nicht der Austausch einzelner Personen, sondern der Austausch des ganzen bestehenden Systems, die Veränderung der bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse, der tatsächliche Übergang der Macht an die Werktätigen, und nicht an den einen oder anderen Vertreter der verschiedenen Gruppen der Elite – das ist der Ausweg aus dieser Sackgasse, in die unser Land geraten ist. Und, so zeigen die Wahlen 2018, erweist sich die Hoffnung auf Wahlen sich mehr und mehr als eine Illusion.
S.W. Sliwko
Erster Sekretär der RKRP und von ROT FRONT in der Region Chabarowsk