Leserbrief
„Der letzte kritische Geist"?
Der folgende Leserbrief von Dr. Hans-Ulrich Jüttner, Mitglied der Hamburger Umweltgewerkschaft, bezieht sich auf den Artikel „,Uns droht dramatischer Wohlstandsverlust‘. Fritz Vahrenholt war Vordenker der Ökobewegung – heute zweifelt er an der deutschen Klimaschutzpolitik“, der am 11. Dezember im „Hamburger Abendblatt erschien. Er wurde am 15. Dezember in derselben Zeitung abgedruckt.
Fritz Vahrenholt beansprucht für sich, die Wissenschaft infrage zu stellen, was sonst „wegen der Verquickung von Wissenschaft und Politik“ nicht mehr gelingen würde. Hat er damit recht und geht er dabei mit einer wissenschaftlichen Methode vor, dann hätten wir in ihm den letzten verbliebenen kritischen Geist zu bewundern. Sind seine Methoden jedoch unwissenschaftlich, so rückt sein Alleinvertretungsanspruch der Kritik in die Nähe der Scharlatanerie.
Schauen wir uns seine Kritiken an: Den Referenzzeitraum in der Klimadebatte um das Jahr 1850 als dem Beginn des Industriezeitalters kritisiert er, weil dies auch das Ende der kleinen Eiszeit sei. Deshalb seien 0,4 Grad der globalen Erwärmung ganz ohne Treibhauseffekt zustande gekommen. Nun ist jedoch die kleine Eiszeit hauptsächlich ein regionales Phänomen verschiedener Regionen auf der Nordhalbkugel. In globalen Rekonstruktionen der Erdoberflächentemperatur ist die kleine Eiszeit nach dem 17. Jahrhundert nicht mehr nachweisbar. Vahrenholt vergleicht hier also Äpfel mit Birnen.
Dann preist Vahrenholt den Kohlendioxid-Anstieg als Ursache der Verbesserung der Ernährungslage. Kohlendioxid hat einen Düngeeffekt auf Pflanzen, aber nur dort, wo nicht andere Faktoren wie die Verfügbarkeit von Nährstoffen oder Wasser das Pflanzenwachstum begrenzen. Weniger „kritische“ Wissenschaftler als Herr Vahrenholt sehen deshalb die Züchtung verbesserter Sorten unserer Nutzpflanzen, den großtechnischen Einsatz von Düngemitteln und andere Agrartechniken als die Hauptursache der Verbesserung der Ernährungslage an.
Der Hitzewelle in Sibirien in diesem Sommer stellt Vahrenholt gegenüber, dass es in Brasilien so kalt wie seit 50 Jahren nicht mehr gewesen sei. …
Tatsächlich verändert die globale Erwärmung die Wettersysteme und kann so auch zu regionalen Kältewellen führen. In den mittleren globalen Temperaturanstieg sind diese Kältewellen sogar schon mit eingerechnet. Wenn Vahrenholt dann andere Hochrisikotechnologien wie die Abscheidung von Kohlendioxid aus Kohlekraftwerken und die Kernenergie fordert, dann blenden die Scheuklappen, die er anderen vorwirft, doch wohl in seinem Gesichtsfeld nicht mindergefährliche Seiten der Umweltkrise aus. Zum Schluss verunglimpft Vahrenholt Greta Thunberg als „Untergangsprophetin“. Das Gegenteil ist der Fall: Greta Thunberg kämpft gegen den Untergang in einer globalen Umweltkatastrophe.