Türkei
Massendebatte über die Religion in der türkischen Gesellschaft
Am 2. Dezember gab der fortschrittliche Koranwissenschaftler Mustafa Öztürk nach Morddrohungen seine Professur an der Marmara-Universität in Istanbul auf. Reaktionär-islamistische Kreise werfen ihm eine gotteslästerliche Koranauslegung vor. An der renommierten Bogazici-Unversität in Istanbul demonstrieren Studenten gegen die Einsetzung des strammen reaktionären Islamisten Melih Bulu als Direktor. "Die Ernennung des Rektors ist eine völlige Missachtung des Willens der Universität und ist politisch", schrieben sie in einer Presseerklärung. Gegen die Studenten wurden Tränengas und Plastikgeschosse eingesetzt und 36 von ihnen wurde festgenommen. Die Proteste gehen aktuell weiter. Sie fordern die Freilassung der Festgenommenen, den Rücktritt des Direktors und die demokratische Wahl von Rektoren.
Die jüngsten Vorgänge werfen ein politisches Schlaglicht auf eine gesellschaftlichen Massendebatte in der Türkei, die von den Massenmedien hierzulande kaum Beachtung findet. Dabei geht es zum einen darum, welche Rolle die Religion überhaupt - und besonders in der türkischen Gesellschaft - spielen soll und zum zweiten um die Auslegung des Koran. Traditionell gilt seit der Gründung des modernen türkischen Nationalstaates durch Kemal Atatürk 1923 in der Verfassung die Erklärung der Religion zur Privatsache. Er führte dort die Trennung von Kirche und Staat ein. Auch wenn der Kemalismus eine reaktionäre bürgerliche Weltanschauung ist, so war das fortschrittlich und ist selbst bis heute in der Deutschland nicht umfassend verwirklicht.
Schritt für Schritt wurden unter Erdoğan immer mehr Oberschulen in Imam-Hatib-Schulen umgewandelt, das sind Lehranstalten für Moschee-Prediger. Unter der Regie des „Staatlichen Amts für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet) wurden seit 2002 zehntausende Moscheen gebaut. 2003 wurde das Kopftuchverbot für Frauen im Staatsdienst aufgehoben. 2017 wurde die naturwissenschaftliche Lehre von Darwin aus dem staatlichen Lehrplan der Schulen entfernt. Im Juli dieses Jahres wandelte Erdogan in einer großen Freitagsgebetszeremonie das zum Weltkulturerbe gehörende Bauwerk Hagia Sophia wieder von einem Museum in ein Gebetshaus um. Er missbraucht systematisch den Islam als Rechtfertigung für seine faschistische Diktatur.
Dagegen hat sich vor allem unter den jüngeren Menschen eine Massendebatte entzündet. Sie fordern unter anderem, dass der Staat sich nicht in die Ausübung der Religion einzumischen habe. Der Anteil der jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren, die sich als islamisch-konservativ bezeichnen, hat sich laut einer Langzeitstudie des Meinungsforschungsinstituts Konda im letzten Jahrzehnt halbiert. Jüngsten Umfragen zufolge sehen sich keine 20 Prozent der Jugendlichen mehr als fromm. (Deutschlandfunk, 15.5.2020) Von den diesjährigen Volksschulabsolventen gaben nur 11 Prozent eine Imam-Hatip-Schule als Priorität für die Versetzung an ein Gymnasium an. Es halten sich weniger junge Leute an die islamischen Gebetsregeln, und im Ramadan wird weniger gefastet. Mädchen und junge Frauen tragen seltener Kopftuch.
Mustafa Akyol, der selbst ausdrücklich für die Aufwertung der liberalen Strömung des Islam ist, beklagt: „Es gibt heute einen Trend zur Säkularisierung in der türkischen Gesellschaft. Viele Menschen fühlen sich abgestoßen von dem autoritären Regime, von seinen Unrechtstaten, der Korruption, dem Nepotismus (Vetternwirtschaft, Anm. d.Red.). Und weil das Regime die Religion nutzt, um sein Tun zu rechtfertigen, führt der Widerwille gegen das Regime zu einem Widerwillen gegen die Religion selbst.“
Die Diskussion ist sehr vielfältig. Mit - aber auch ausdrücklich gegen den Islam - wird gegen striktes Alkoholverbot argumentiert, gegen die Pflicht zur Verschleierung von Frauen und vieles mehr. In Izmir erklang im Mai aus 30 Moschee-Lautsprechern das Widerstandslied "Bella Ciao" - in einer Fasung der revolutionären Musikgruppe Grup Yorum.
Seit Jahren nehmen sogar beim Fastenbrechen kritische Formen zu: Kritisiert wird, dass die "islamisch-fromme Elite" der Türkei in Luxuskarossen zu glanzvollen Empfängen zum Fastenbrechen vorfahre. Dagegen wird ein bescheidenes Fastenbrechen auf dem Biden (ein Bodenkissen, Anm. d. Red.) sitzend organisiert, zum dem es im Internet heißt: „Es mag aussehen wie ein Abendessen, aber eigentlich ist es eine Philosophie, zu der wir einladen. Zum Beispiel muss ein gläubiger Muslim beim Fastenbrechen sein Brot mit einem Atheisten teilen können – das sollte weder dem einen noch dem anderen Unbehagen bereiten.“
Die Debatte findet auch unter den Geistlichen (Koranwissenschaftler, Imame) und Gläubigen statt. Dabei findet ein heftiger Streit um die Koranauslegung statt. Professor Mustafa Öztürk erklärte dies an der Stellung zur Sklaverei. Diese wird im Koran erwähnt und die „Traditionalisten“ vertreten, dass sie heute uneingeschränkt ihre Rechtfertigung habe, weil sie „Teil der göttlichen Ordnung“ sei. Öztürk dagegen will den Koran auf bürgerlich demokratische Verhältnisse anpassen und vertritt, dass die „Sklaverei keine universelle Norm“ ist. Damals zur Zeit von Mohammed vor über 1400 Jahren war ihre Abschaffung kaum möglich. „Die Religion sah lediglich eine Regulierung und Humanisierung des Systems vor."¹ Womit auch er die Unterdrückung rechtfertigt!
Die Debatte entfaltet sich vor dem materiellen Hintergrund der Abwälzung der Krisenlasten auf die Massen, die insbesondere die Jugend trifft. Laut einer Studie einer türkischen Universität fühlen sich 50,5 Prozent unzufrieden mit ihrem Leben. Jeder Dritte ist heute arbeitslos. 5 Millionen Universitätsabsolventen sind außerstande ihre Studienkredite zurück zu zahlen. Viele junge Menschen sind verschuldet und denken daran, auszuwandern.²
Die Debatte um die Koranauslegung wird zum Teil mit härtesten Bandagen geführt. Sie spiegelt die Polarisierung zwischen der Rechtsentwicklung und dem fortschrittlichen Stimmungsumschwung wieder, aus dem heraus diese Debatte überhaupt zu erklären ist. Die reaktionäre Schürung von Ängsten gegen den Islam, wie sie faschistisch, rassistische Organisationen in Westeuropa, wie die AfD in Deutschland, betreiben, ist nur das passende Gegenstück zur islamistisch verbrämten Rechtfertigung des Faschismus in der Türkei.
Die MLPD respektiert rekligiösen Gefühle der Menschen. Es muss aber auch möglich sein,. über Fragen der Religion sachlich zu diskutieren! Alle Weltreligionen, die aus grauer Vorzeit der Sklavenhalter- und Feudalgesellschaft stammen, haben es schon immer verstanden, sich den jeweils neuen gesellschaftlichen Anforderungen der Herrschenden anzupassen. So wie es in einem alten Sprichwort heißt, dass „Gott schon immer mit den stärksten Bataillonen marschiert.“ Die Massenkritik und -debatte über den Islam und seine Rolle in der Türkei ist somit ein weltanschauliches Vorgefecht für die Suche der Menschen nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus.
Die hauptsächliche Diskussion ist die, ob die Massen sich der Religion und dem Aberglauben hingeben, oder sie die dialektisch-materialistische Weltanschauung für sich annehmen. Diese führt zum wissenschaftlichen Sozialismus. Diese Diskussion ist der Grund dafür, weshalb Erdoğan mit dieser Härte vorgeht. Er hat Angst davor, dass die religiöse Basis ins Rutschen kommt, wenn er an dieser Stelle nachgibt. Eine Entwicklung, in deren Rahmen die revolutionären Organisationen in der Türkei eine große Aufgabe vor sich haben.