Tokio
Mythos der Ideologiefreiheit der Olympischen Spiele bröckelt
In Tokio gingen am Sonntag die „Spiele der 32. Olympiade“ zu Ende. 11.090 Sportlerinnen und Sportler aus 208 Ländern haben in 339 Wettbewerben ihre Kräfte gemessen.
Die Austragung der Spiele war wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben worden und sie fanden weitgehend ohne Publikum statt. Aber die Mehrheit der japanischen Bevölkerung war bis zum Beginn gegen die Austragung – vor allem aus Angst vor der Ausbreitung der Pandemie. Es gab für japanische Verhältnisse viele Protestdemonstrationen. Tatsächlich wurde ein immenser Aufwand betrieben - mit über 600.000 Tests, die nicht verhindern konnten, dass 430 Infektionen während der Spiele auftraten.
Für sehr viele Athleten waren die Spiele aber ein Höhepunkt ihrer Karriere, auf den sie sich viele Jahre in harter Arbeit vorbereitet haben. Die usbekische Turnerin Oksana Chusovitina feierte mit 46 Jahren nach acht olympischen Spielen ihren Abschied mit Standing Ovations der wenigen Anwesenden. Der deutsche Ringer Frank Stäbler feierte seine Bronze-Medaille nach überstandener Long-Covid-Erkrankung („Bronze ist das neue Gold“) und ließ seine Schuhe auf der Matte zurück.
In Erinnerung bleiben sicher auch der Sieg von Alexander Zverev im Tennis, die Rückkehr der großen Turnerin Simone Biles nach ihrer psychischen Erkrankung, der große Kampf des Dimitri Ovtcharov gegen den „unbesiegbaren“ Ma Long im Tischtennis, der letzte Sprung von Malaika Mihambo auf 7,00 Meter oder Florian Wellbrocks grandioses Wettschwimmen mit den fliegenden Fischen im Freiwasser. Die Hochspringer Gianmarco Tamberi und Essa Mutaz Barshim teilten sich bewusst die Goldmedaille statt noch ein Stechen zu springen.
Wie nie zuvor ist die Fiktion von den „ideologiefreien“ Spielen in Frage gestellt worden. Schon die Idee des Barons de Coubertin vor 140 Jahren mit „unpolitischem“ Sport den Weltfrieden zu fördern war weltanschaulicher Idealismus. In einem offenen Brief hatte dieses Jahr IOC-Präsident Thomas Bach geschrieben: „Bei den Olympischen Spielen geht es nicht um Politik. Das IOC ist als zivile Nichtregierungsorganisation politisch neutral.“ Selbst die konservative Neue Zürcher Zeitung kommentiert das knapp: „Das ist natürlich Unsinn.“
Tatsächlich zählen zahlreiche internationale Konzerne zu den Sponsoren des IOC. Der japanische Werbe-Dachverband Dentsu hatte dafür gesorgt, dass die japanische Industrie insgesamt 3,3 Milliarden Dollar an Sponsorengeldern für das Recht, mit Olympia zu werben, aufbrachte. Für die Organisatoren der Olympischen Spiele sind diese nicht nur eine wahre "Gelddruckmaschine", sie waren auch nie "politisch neutral".
Olympische Spiele wurden immer, besonders seit 1936 in Berlin, vor allem zur Verbreitung nationalistischer Gefühle benutzt. Auch heute bringen die bürgerlichen Massenmedien am liebsten Sportler, die ihre Medaille ihrem Land widmen. Der Medaillenspiegel nach Ländern ist auch ein Spiegel des Ringens der imperialistischen Großmächte um die führende Position, diesmal ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den USA und China.
Auffällig war aber auch, dass sich Spitzensportler verstärkt politisch und vor allem fortschrittlich positionieren. Sportlerinnen weigerten sich bei Strafe, die aufgezwungene äußerst knappe Bekleidung zu tragen, die Sängerin Pink übernahm dann die Strafzahlung etwa der norwegischen Beach-Volleyballerinnen. Die deutsche Kapitänin der Hockey-Mannschaft trug eine regenbogenfarbene Binde aus Solidarität gegen sexuelle Diskriminierung. Zu Recht, aber zu spät hat der Bund deutscher Radfahrer seinen Sportdirektor Patrick Moster suspendiert, der arabische Radsportler rassistisch beleidigt hatte. Als die Fußballerinnen aus fünf Ländern zu Beginn ihrer Spiele niederknieten als Zeichen gegen Rassismus, wurde diese Geste aus dem offiziellen Video der Spiele herauszensiert, musste nach Protesten dann aber wieder eingefügt werden. Ein Schwimmer aus Myanmar weigerte sich, unter der Flagge seines Landes in das Stadion einzumarschieren. Das wurde allerdings nicht so bekanntgemacht wie der Fall der Kristina Timanowskaja aus Belarus, die wegen Kritik an einer Entscheidung des Verbandes praktisch entführt werden sollte. Aufsehen erregte auch die Silbermedaillen-Gewinnerin im Kugelstoßen, Raven Saunders, die bei der Siegerehrung ihre Arme über dem Kopf kreuzte als Zeichen der Solidarität mit unterdrückten Menschen. Niemand traute sich, sie dafür abzustrafen.
Weniger publik wurde die Geste der beiden Olympiasiegerinnen Shanju und Zhong Tiansi im Teamsprint auf der Bahn. Sie trugen bei der Siegerehrung stolz rote Buttons mit dem Kopf Mao Zedongs.