Springer-Konzern
Julian Reichelt und die "Bildzeitung": Abgründe des deutschen Journalismus
Der Chefredakteur der berühmt-berüchtigten Bildzeitung, Julian Reichelt, wurde am Montag von "seinen Aufgaben entbunden". Worum geht es?
„Die Dokumente, die ich sah, zeichnen ein Bild einer Arbeitsplatzkultur, die Sex, Journalismus und Firmengeld vermischt“, so Ben Smith in seiner Enthüllung in der New York Times. Im Frühjahr wurde ein sogenanntes Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt eingeleitet. Gegenüber einer von Axel Springer beauftragten Anwaltskanzlei machten mehrere Mitarbeiterinnen belastende Aussagen, beispielsweise: „So läuft das immer bei BILD, wer mit dem Chef schläft, bekommt einen besseren Job“ (und schreibt die ihm genehmen Artikel). Mehrere Auszubildende und Praktikanten lud er per Instagram zum Essen ein. Während der Affäre mit einer Auszubildenden rief er sie mehrmals zu sich ins nahegelegene Hotelzimmer. Je nach Verhältnis zum Chef wurde man, besser: frau, über die persönliche Qualifikation hinaus befördert - oder aber verstoßen. Zur Beförderung seines Egos und seiner hemmungslosen Schreibereien kokste er fleißig während der Arbeit.
"Alles im Rahmen"
Nach dem Compliance-Verfahren wurde Reichelt für zwölf Tage beurlaubt – um dann ungeschoren wieder in Amt und Würden zurückzukehren. Schließlich habe er zwar Fehler gemacht, jedoch „keine unverzeihlichen“. Beziehungen zu Mitarbeiterinnen seien allesamt „einvernehmlich“ gewesen. Und über den Drogenkonsum wusste Axel Springer laut Deutschlandfunk Nova, dass das alles im Rahmen geblieben sei. Und schließlich, so der Verleger Axel Springer: Die gemachten Fehler würden wettgemacht durch die journalistischen Leistungen des Beschuldigten. Reichelt gab sich reumütig: „Was ich mir mehr als alles andere vorwerfe, ist, dass ich Menschen, für die ich verantwortlich war, verletzt habe“. Doch lang hielt die Reue nicht, denn zurück am Arbeitsplatz machte er genauso weiter wie zuvor.
Die Weltanschauung des Herrn Reichelt
Die Begründung seiner Entlassung mutet relativ harmlos an: Er habe „Privates und Berufliches nicht klar getrennt“ und „die Unwahrheit gesagt“. Hätte er seinen Drogenkonsum und seine Affären also auf außerhalb der Arbeitszeit gelegt, wäre alles in Ordnung? Nach Meinung der Bildzeitung schon. Was für Abgründe eröffnet das bezüglich Denkweise und Strukturen des Konzerns? Noch gestern lobte im neuen BILD TV der stellvertretende Chefredakteur Reichelts „journalistische Glanzleistungen, seine Ideen“ mit denen er „so viele Menschen hier bei Bild geprägt“ habe. Parallel zu seiner Entbindung leitete Axel Springer „rechtliche Schritte gegen Dritte ein“, die im Frühjahr konsequente Maßnahmen forderten, „offenbar mit dem Ziel, Julian Reichelt aus dem Amt zu entfernen“.
Denn Reichelts Weltanschauung geht voll d’accord mit der des Springer-Konzerns. Auch die New York Times resümiert gestern: „Axel Springer war ein erbitterter Antikommunist und Unterstützer Israels, und seine Zeitungen standen der studentischen Linken der 1960er und 1970er Jahre feindlich gegenüber.“ Nur folgerichtig wurde Reichelt mit seiner im Privaten wie im Beruflichen erzreaktionären, sexistischen, antikommunistischen und rassistischen Weltanschauung 2017 Chefredakteur der Bildzeitung. Sie wurde zum Sprachrohr aller Facetten der offen reaktionären Rechtsentwicklung: Er zog als Antikommunist ins Feld gegen den sogenannten „Linksextremismus“. Als Anhänger der „Ideologie der Ideologiefreiheit“ beschwerte er sich, dass „politische Ansichten … zunehmend zu Ideologien“ würden, um sich im selben Artikel darüber auszulassen, dass, „wer politisch 'rechts' steht (nicht rechtsextrem, sondern ganz legitim rechts), … in Sprache und Taten vielen als abschussfrei“ gelte (1.1.2020).
Er ist einer der Verantwortlichen für die undemokratischen Totschweige-Politik gegenüber der MLPD. Zur gleichen Zeit verteidigte er die zionistische Politik des Staates Israel und brandmarkte jeden demokratischen Kritiker als Antisemiten. Unter seiner Regentschaft diffamierte die Bildzeitung den Flüchtlingsaktivisten Alassa Mfouapon auf Seite 1 wahrheitswidrig als "Sozialschmarotzer" und "Linksextremisten". Er diffamierte richtige gesundheitspolitische Maßnahmen während der Corona-Pandemie und gab allen reaktionären Bewegungen der letzten Jahre Vorschub. Axel-Springer-Chef Döpfner lobte ihn noch gestern: "Er (Reichelt) ist halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR(!)-Obrigkeitsstaataufbegehrt. Fast alle anderen sind zu Propaganda-Assistenten geworden." Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Döpfner erst aktuell seinen Konzern „mit den höchsten ethischen Standards und einer inklusiven, offenen Kultur“ anpreist. Was für eine Ethik und Kultur das ist, wird deutlich, wenn Döpfner äußert, dass man gerne weiter mit Reichelt zusammen gearbeitet hätte, dies nun aber leider nicht möglich sei. Leider!
„Naja, ist ja nur die Bildzeitung". Oder: Wie frei ist deutscher Journalismus?
Die Bildzeitung ist Deutschlands und Europas größtes Boulevardblatt. Der Axel-Springer-Konzern schrieb sich in den letzten Jahren auf die Fahne, „Champion in digitaler Publizistik“ zu werden. Er expandierte in die USA, kaufte 2015 für 442 Millionen $ den Business Insider, im Sommer 2021 Politico für 1 Milliarde $. Nach eigener Auskunft strebt Axel Springer an, „der führende digitale Verlag in der demokratischen Welt zu werden“. Was sagt uns das über den demokratischen Charakter dieser Welt, wenn Springer dazu beiträgt, dass die herrschende Meinung die Meinung der Herrschenden bleiben möge?
Es handelt sich also um einen internationalen Konzern, der die Denkweise, die politische Einstellung von zig Millionen Menschen manipuliert.
Sicher wird sich jeder seriöse Journalist von Julian Reichelt distanzieren. Und dennoch betreibt die Bild nicht nur ungehindert, sondern allseits gefördert ihr reaktionäres Spiel: Reichelt wurde regelmäßig in bürgerliche Talkshows zu Beckmann, Anne Will, Hart aber fair, dem WDR-Presseclub eingeladen. Kritische Berichterstattung über Reichelt wurde unterdrückt: Bereits im April 2018 sollte im Handelsblatt über einen „Interessenskonflikt von Reichelt zu einer Frau in einer PR-Agentur“ berichtet werden, schreibt der Spiegel. Doch der Artikel wurde nach einem Anruf von Reichelt gecancelt, so der Spiegel. Ein Investigativ-Team hatte seit Monaten über Reichelt recherchiert. Doch der Verleger Dirk Ippen, dem Blätter wie die Frankfurter Rundschau oder der Westfälische Anzeiger gehören, verhinderte den Bericht. Bild erhielt im letzten Jahr mit 22 fast ein Drittel aller Rügen des Deutschen Presserats. Bild nahm das schulterzuckend in Kauf – und nichts passierte.
Es passt, was Willi Dickhut in seinem Hauptwerk "Der Staatsmonopolistische Kapitalismus in der BRD" schrieb: „Durch die Massenmedien verbreiten die Monopole und ihre Regierung täglich ihre Ideologie, beeinflussen unter dem Vorwand der Information Millionen in ihrem Sinne. Für die Mehrheit der Bevölkerung sind die Massenmedien die einzigen Quellen von Information und Meinung. Durch Nachrichten, Kommentare und Berichte werden scheinbar objektiv 'Tatsachen' dargestellt. Diese bilden dann die Grundlage für positive oder negative Einschätzungen durch die Leser oder Hörer.“ (III. Teil, S.104 - mehr Infos hier: www.revolutionaerer-weg.de)
Wer objektiven Journalismus, Polemik gegen Gestalten wie Herrn Reichelt, wer Arbeiter-Korrespondenzen aus erster Hand will – dem sei die Rote Fahne empfohlen!
Quellen:
- https://www.axelspringer.com/de/presseinformationen/nach-neuen-erkenntnissen-axel-springer-entbindet-julian-reichelt-von-seinen-aufgaben
- https://www.nytimes.com/2021/10/17/business/media/axel-springer-bild-julian-reichelt.html?searchResultPosition=2
- https://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/axel-springer-verlag-bild-chefredakteur-verlor-in-new-york-den-job/27716700.html
- https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/trotz-abschiebung-wieder-da-der-unfassbare-fall-des-alassa-m-59347564,view=conversionToLogin.bild.html
- https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/julian-reichelt-warum-der-bild-chefredakteur-entlassen-wurde
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