Gesundheitskrise
Notstand für Kinder und Kinder-Krankenhäuser
In der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Allgemeinen Krankenhaus in Celle gibt es 33 normale Stationsbetten und 10 Intensivbetten. Praktisch alle sind zurzeit belegt. Aber nicht mit Covid-Patienten. Bis zu 50 Prozent der Betten werden für Kinder gebraucht, deren Atemwege so stark von dem sogenanntem RS-Virus befallen sind, dass ihre Atmung, ihre Sauerstoffversorgung und ihr Kreislauf engmaschig überwacht werden müssen.
Das Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RS-Virus, ist bei Säuglingen und Kleinkindern der häufigste Auslöser für Infektionen der unteren Atemwege, also der Luftröhre, der Bronchien und der Lungenbläschen. Kaum ein Kind unter zwei Jahren, das nicht wenigstens einmal mit dem Virus in Kontakt kommt. Die meisten sind nach ein paar Tagen wieder fit. Bei Babys in den ersten drei Lebensmonaten, Frühgeborenen und Kindern mit chronischen Lungenerkrankungen oder angeborenen Herzfehlern kann das RS-Virus allerdings schwere Lungenentzündungen oder gar eine Sepsis hervorrufen und damit lebensgefährlich werden. Die Klinik in Celle ist keine Ausnahme. In diesem Jahr kommen die RS-Infektionen viel früher als sonst und massiver. 78 Prozent der Kinderkliniken haben mit solchen Versorgungsengpässen zu kämpfen, dass sie zum Teil keine Kinder mehr aufnehmen können. Im letzten Winter haben die Corona-Schutzmaßnahmen dazu geführt, dass sich kaum jemand, weder Kinder noch Erwachsene, mit dem RS-Virus infiziert hat, auch nicht schwangere Frauen, die somit auch nicht die sonst übliche Immunisierung an ihre noch ungeborenen Kinder weitergegeben haben. Wenn jetzt bei Kindern und Jugendlichen Corona-Infektionen dazu kommen, geraten die Kliniken an ein gefährliches Limit. Die Kinderärzte sagen ausdrücklich, dass nicht die Corona-Schutzmaßnahmen falsch waren, sondern die mangelnde Vorsorge und der massive Abbau von Kliniken in den vergangenen Jahren.
In Bayern gibt es diese Situation wie oben beschrieben schon: "In den Münchner Kinderkliniken sind wegen des Personalmangels derzeit alle Intensivbetten belegt. Schwerstkranke kleine Patienten müssen abgewiesen und Operationen verschoben werden.“ Die Corona-Sieben-Tage-Inzidenz bei Kindern war in Bayern weit über 1000, als sie insgesamt noch bei 328 lag. Die Warnungen vor einer "Durchseuchung" bei Kindern wurden zwar schon ab September lauter. Doch da viele infizierte Kinder keine oder nur leichte Symptome haben, redeten Politiker die Lage an den Schulen und Kitas schön als „sicher“. Ein gefährlicher Trugschluss. Die jetzige Entwicklung hat aber selbst die schon damals sehr pessimistischen Erwartungen der Kliniken noch übertroffen. Der 22. Oktober war der Kipppunkt, seitdem haben wir stark steigende Inzidenzzahlen und damit einhergehend steigende Intensivbehandlungen für Kinder und Jugendliche. An den Schulen in Deutschland gab es nach Zahlen der Kultusministerkonferenz (BR vom 18. November) rund 45.500 bekannte Corona-Fälle. In der Vorwoche waren 23.000 gemeldet worden - eine Steigerung um fast 100 % in nur einer Woche.
RS-Virus breitet sich heuer früher und stärker aus
In diesem Jahr hat die durch das RS-Virus ausgelöste Krankheitswelle deutlich früher und stärker als in der Vergangenheit eingesetzt und führt zu mehr Komplikationen. Für die Kinderärzte kommt die aktuelle Situation nicht überraschend: "Wir hatten erwartet, dass diese RS-Virus-Welle kommt. Es ist relativ klar, dass jetzt, wo die Kinder wieder miteinander zu tun haben dürfen und wir drei Jahrgänge haben, die in den Kindergärten aufeinandertreffen und durch den Lockdown keinen Austausch der Infektionen hatten, dreimal so viele Kinder wie sonst krank werden", erklärte die Bundesärztekammer. Bisher hatten also die Corona-Hygienemaßnahmen das Virus unterdrückt, seine Ausbreitung gebremst und damit ebenso eine gewisse Immunisierung der Kinder: Jetzt schlägt RS dreifach zu, nicht nur in Bayern. Auch Sachsen-Anhalt meldet: "Die Kinderabteilungen sind extremst gefüllt mit diesem RS-Virus", Mecklenburg-Vorpommern "bestätigt eine im Vergleich zu anderen Jahren ungewöhnliche Häufung der Fälle“, und "im ganzen Ruhrgebiet sind wir hier am Anschlag". Alle Kliniken in NRW beobachten eine frühe und starke Krankheitswelle.
Notstand in Kinderkrankenhäusern = Folge kapitalistischer Profitorientierung
Dass es in einem der reichsten Länder der Erde zu solchen Notsituationen kommt, daran haben nicht die Corona-Schutzmaßnahmen und nicht das RS-Virus schuld. Dieses ist seit langem bekannt. Sondern die mangelnde Vorsorge vor seinem Erscheinen vor allem in den Krankenhäusern. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte kritisiert, dass Kinderheilkunde von den Krankenkassen viel zu schlecht bezahlt wird. Es gebe zu wenige Betten, zu wenige Ärztinnen und Ärzte, zu wenig Pflegekräfte für Kinder. Auch ein Viertel der Kinderärzte geht in den nächsten fünf Jahren in den Ruhestand. So seien immer mehr Kinderkliniken und Kinderabteilungen in finanzielle Schieflage geraten und geschlossen worden. (epd 26. Oktober 2021).
Ursache: Man kriegt für die Behandlung von Kindern bestenfalls genauso viel Geld wie für die Behandlung von Erwachsenen. Aber die Behandlung von Kindern ist sehr viel aufwendiger! „Seit 1991 wurde jede fünfte Kinderabteilung geschlossen. In der stationären Kinderheilkunde wurden vier von zehn Betten abgebaut“, so das Ärzteblatt schon 2018. Verantwortlich für die besorgniserregende Situation der Kinderkliniken sind „die diagnosebezogenen Fallpauschalen (diagnosis related groups, DRGs). Seit der Einführung des auf ökonomische Effizienz ausgerichteten DRG-Systems habe sich die Situation der Kinderkrankenhäuser stark verschlechtert.“ Diese Ausrichtung der Krankenhäuser auf „Ökonomische Effizienz“ gilt nicht nur für Kinderkrankenhäuser. Nach Ministeriumsangaben verfügten 2019 bundesweit 1.914 Kliniken über 494.000 Patientenbetten. Von 2005 bis 2019 wurden 206 öffentliche Kliniken mit 38.000 Betten abgebaut. Bei freien und gemeinnützigen Trägern lag das Minus bei 173 Häusern und 22.000 Betten; insgesamt ein Minus von 60.000 Betten. Demgegenüber steht die Inbetriebnahme von nur 154 profitorientierten privaten Kliniken mit 30.000 Betten.
Diese Entwicklung hat System
Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Juli 2019 sieht eine Vernichtung von 69 – 73 % aller Krankenhäuser bis 2030 vor, bei einer Verringerung der Bettenzahl um 19 %. Maßstab dafür sind die „unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten anzustrebenden Krankenhausgrößen“ – also der Höchstprofit.
Den eigentlichen Hintergrund für diese Entwicklung analysierte Stefan Engel schon 2003: „Mit der Neuausrichtung des Staats auf die internationale Expansion der Monopole setzte eine umfassende Privatisierungswelle ein. ... Damit stehen auch alle Bereiche der Produktion und der Reproduktion des menschlichen Lebens auf der Tagesordnung. Die Unternehmen wurden sofort auf die Erzielung von Maximalprofiten ausgerichtet; denn es ging keineswegs um 'Kostensenkung und Effektivitätssteigerung', wie Monopolvertreter und Politiker glauben machen wollten, sondern allein um neue Anlagemöglichkeiten für das überschüssige Kapital der Monopole.“ („Götterdämmerung über der 'neuen Weltordnung'", Seite 203.)
Deshalb gilt es, den Kampf für den Erhalt und Ausbau von Kinder- und allen anderen Krankenhäusern zu verbinden mit dem Kampf gegen das menschenverachtende kapitalistische Profit-System!
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