Aufführung des Weihnachtsoratoriums in Gelsenkirchen
"Jauchzet, frohlocket!" Ein gescheiterter Versuch
Düsseldorf, Kassel, Gelsenkirchen – in gleich drei Städten inszenierten die städtischen Theater in der Weihnachtszeit unabhängig voneinander eine interessante Grundidee: Das populäre christliche „Weihnachtsoratorium“ von Johann Sebastian Bach wurde in szenischen Darstellungen mit der aktuellen realen Welt konfrontiert – mit ihren harten Realitäten, Wünschen, Hoffnungen.
„Jauchzet, frohlocket!“ - unter diesem Titel mit den ersten beiden Worten aus dem grandiosen Eingangschor des Weihnachtsoratoriums boten die Gelsenkirchener Bühnen eine lebendige, innovative und farbenfrohe Inszenierung. Doch hinter dieser vielschichtigen Fassade wurden die hochgesteckten Erwartungen in der Hauptseite enttäuscht. Der idealistisch-hoffnungsfrohen Weihnachtsgeschichte setzt der Gelsenkirchener Regisseur Michael Schulz nur einen platten negativistischen Materialismus entgegen:
So endet die Weihnachtstradition des Schenkens mit einer bewussten Provokation. Zwei lebensgroße Kinderpuppen entnehmen ihrem Geschenkpäckchen eine Pistole. Der Junge erschießt damit das Mädchen. Angeblich soll das an heutige Kindersoldaten oder an das syrische Flüchtlingskind erinnern, dessen Leichnam an der türkischen Küste angeschwemmt wurde.
Und der Mythos über den „Kindermord von Bethlehem“ - nach einem Theaterstück des italienischen Anarchisten Dario Fo - endet mit einer verzweifelten irre gewordenen Mutter, die anstelle ihres ermordeten Kindes wahnhaft ein lebendiges Lämmchen an ihre Brust drückt. Zweifellos, Elend, Unterdrückung und auch Niedertracht existieren in der Klassengesellschaft. Damals und heute. Aber nicht nur. Warum wird die Weihnachtsbotschaft nicht mit dem heutigen realen Widerspruch aktualisiert? Nämlich zwischen den Destruktivkräften einerseits und der immer allseitigeren materiellen Vorbereitung des Sozialismus? Zwischen Rechtsentwicklung und fortschrittlichem Stimmungsumschwung unter den Massen?
Weil die Regie letztlich eine doppelte Botschaft verbreiten will: Zum einen: Die Welt ist schlecht. Die Weissagung der Hexen aus Carl Orffs teuflischem "Weihnachtsspiel“ - zweimal den Bachkantaten vorangestellt - „scheint sich zu bewahrheiten: die Menschheit vernichte sich durch ihre eigene Dummheit“1. Die beiden zynischen Szenen von Dario Fo bekräftigten nur diese Botschaft. Zum anderen bleibt als einzig positive Botschaft laut Begleitheft: „In Bachs Schlusschor … findet sich die Botschaft wieder: Glaube gibt Hoffnung und Kraft“. Mit anderen Worten: Idealismus ist stärker als Materialismus.
Doch der hier inszenierte Materialismus ist platt und einseitig negativ. Aus der Logik der Inszenierung heraus ist das folgerichtig. Denn diese Art von platt materialistischer Religionskritik stößt ab und wertet damit die Religion auf. Karl Marx forderte stattdessen eine dialektisch-materialistische Religionskritik: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks … Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde."2
Zu Recht würdigt das Begleitheft „Bachs Weihnachtsoratorium …, das Positivität ausstrahlt und in seiner Vielseitigkeit und Bildhaftigkeit Hoffnung zum Ausdruck bringen.“ Im dialektischen Sinne von Karl Marx kann diese „Positivität“ der Musik auch für Revolutionäre ein Genuss sein – auch ohne Glauben und die religiösen Texte. Nebenbei: Einen Großteil dieser Musik komponierte Bach ursprünglich für weltliche Anlässe mit weltlichen Texten. Chor und Orchester waren hervorragend. Ebenso wie die szenische Darstellung des Weihnachtsoratoriums selbst. Die eingebauten zeitgenössischen Musik- und Theaterstücke sowie die Puppenspiele dagegen waren meist willkürlich, überladen und verwirrend. Ihr Negativismus schmälerte den Gewinn des Abends enorm. Schade. (Weitere Aufführungen: 23. und 30. Januar 2022 je 19.30 Uhr im Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen).