Mit der dialektischen Methode den Charakter des Krieges klären
Ukraine/Russland – wirklich ein von beiden Seiten ungerechter Krieg?
Die "Rote Fahne" erreichten mehrere Zuschriften zur Frage, ob man in Bezug auf den Krieg um die Ukraine tatsächlich von einem von beiden Seiten ungerechten Krieg sprechen kann. Die Verfasser dieser Zuschriften erhielten bisher verschiedene einseitige und oberflächliche Antworten. Das wollen wir nunmehr korrigieren.
So schreibt ein Leser: „Haben wir es nicht vielmehr mit einem Doppelcharakter zu tun? Sicherlich ist die ukrainische Regierung nicht fortschrittlich. … Aber hat die ukrainische Bevölkerung und Arbeiterbewegung deshalb nicht das Recht, auch mit kriegerischen Mitteln, sich der Okkupation des russischen Imperialismus zu erwehren? Muss sie nicht gleichzeitig auch den Kampf gegen die eigene reaktionäre Regierung führen? Ich denke schon.“ Auch ein anderer Leser fordert: „Was soll daran ungerecht sein, dass sich die Ukraine gegen den Überfall militärisch zur Wehr setzt?“
Alle diese Zuschriften bringen berechtigte Aspekte in die Diskussion
Einig sind sich alle Kritiker, dass die Selenskyj-Regierung reaktionär ist. Aber, so schreibt ein dritter Kritiker, „sind deshalb die Kämpfe gegen die Invasoren auch bereits ungerechte Kämpfe? Das berührt ja nicht nur die ukrainische Armee, sondern auch Teile der Bevölkerung. ... Sind das alles Unterstützer der Selenskyj-Regierung und des Anschlusses an Nato und EU?
Alle diese Zuschriften bringen berechtigte Aspekte in die Diskussion. Insbesondere wurde vonseiten der Roten Fahne beziehungsweise in den bereits verschickten Antworten die subjektive Seite der ukrainischen Massen geringgeschätzt: Ihr aktiver Widerstand gegen die russische Invasion ist gerechtfertigt und genießt unsere uneingeschränkte Solidarität. Er wird vielfach subjektiv ausdrücklich in der Tradition des Widerstands gegen den Hitler-Faschismus gesehen. Sofern Teile der Massen nationalistisch eingestellt sind oder auch in »den Russen« ihren Feind sehen, ist das immer noch ein Widerspruch im Volk. Hier muss vor allem bewusstseinsbildende Arbeit geleistet werden.
Darauf wies Lenin bereits im November 1919 hin: »Da infolge der jahrhundertelangen Unterdrückung bei dem rückständigen Teil der ukrainischen Bevölkerung nationalistische Tendenzen zu verzeichnen sind, haben die Mitglieder der KPR die Pflicht, diesen mit größter Behutsamkeit zu begegnen und ihnen eine kameradschaftlichen Aufklärung darüber entgegenzusetzen, dass die werktätigen Massen der Ukraine und Russlands die gleichen Interessen haben.« Auf der anderen Seite der Barrikade stehen allerdings diejenigen Akteure beziehungsweise Freiwilligentrupps, die in einer faschistischen Einstellung und Tradition stehen.
Bewusste Anwendung der dialektischen Methode ist sicherer Kompass
Zur allseitig treffenden und differenzierten Beurteilung der komplizierten objektiven und subjektiven Ausgangslage ist die bewusste Anwendung der dialektischen Methode ein sicherer Kompass. Lenin entwickelte die „Bestimmung der Dialektik“, auf deren Grundlage er damals genial die erfolgreiche Oktoberrevolution des russischen Proletariats führte. Lenin leitet darin an, die charakteristische Widersprüchlichkeit in jedem Ding zu analysieren. Und Mao Zedong schreibt: »Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze, ist das fundamentalste Gesetz der materialistischen Dialektik.«
Untersucht man die »widersprechenden Kräfte und Tendenzen« (Lenin) in der Kriegsführung des ukrainischen Staates, so wird deutlich: Einerseits ist die Ukraine ein abhängiger kapitalistischer Staat mit einer ultrareaktionären und antikommunistischen Regierung. Andererseits vertreten die Marxisten-Leninisten das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und verteidigen auch das bürgerlich-demokratische Recht der Unversehrtheit der Grenzen. Russland wiederum ist ein neuimperialistisches Land, dessen Putin-Regierung derzeit immer mehr mit faschistischen Methoden regiert und einen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat. Andererseits muss bei ihr in Rechnung gestellt werden, dass NATO und EU sie seit Jahren provozieren und eine wortbrüchige NATO-Osterweiterung durchgeführt haben.
Die notwendige Analyse und Berücksichtigung dieser Widersprüchlichkeit kann jedoch nicht als »Doppelcharakter« des Krieges charakterisiert und es kann nicht die Qualifizierung als »ungerechter Krieg« infrage gestellt werden. Denn Mao Zedong schreibt weiter: »Von den beiden Seiten des Widerspruchs ist die eine unweigerlich die hauptsächliche, die andere die sekundäre Seite. … Der Charakter eines Dings wird im wesentlichen durch die Hauptseite des Widerspruchs bestimmt, die eine dominierende Stelle einnimmt.«
Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
Was ist nun in der Kriegsführung der Ukraine die »dominierende« Seite, die den »Charakter« des Krieges bestimmt? Oder wie Lenin es formuliert, was ist »das Ding an sich selbst«?
Das kann am besten entsprechend der Leitlinie des dialektischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz analysiert und beurteilt werden: »Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Die Regierung der Ukraine führt diesen Krieg keineswegs mit dem Ziel der Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes. Sie führt ihn mit dem erklärten Ziel, Teil des imperialistischen NATO/EU-Blocks zu werden. Dem ist die ganze Kriegsführung und auch die Politik nach innen untergeordnet, die zum Beispiel Arbeiterkämpfe niedergeschlagen hat und eng mit Faschisten wie dem Asow-Regiment zusammenarbeitet beziehungsweise mit ihnen verbunden ist. Das ist eine ungerechte Politik, weshalb deren Fortsetzung mit militärischen Mitteln eindeutig als ungerechter Krieg charakterisiert werden muss.
Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen?
Die dritte Hauptanforderung der Bestimmung der Dialektik von Lenin ist nunmehr »die Vereinigung von Analyse und Synthese«, d. h. welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Die ukrainischen Massen stehen grundsätzlich vor der komplizierten Situation eines Zweifrontenkrieges: Sie müssen die russischen imperialistischen Invasoren besiegen, jedoch für ihre soziale Befreiung auch den Kapitalismus in der Ukraine revolutionär überwinden. Dabei befinden sich sowohl die ukrainische als auch die russische Gesellschaft in der ersten Etappe des Klassenkampfs. Es besteht keine revolutionäre Situation, in der siegreich die Invasoren bekämpft und gleichzeitig »die Gewehre umgedreht« und die eigene Regierung in einer sozialistischen Revolution besiegt werden kann. Dafür fehlt es insbesondere auch an einer starken, verankerten revolutionären Führung, die den proletarischen Internationalismus vertritt.
In der Antwort auf einen Leserbrief am 2.3.2022 war es deshalb abgehoben von der objektiven gesellschaftlichen Realität und vom Bewusstsein der Massen, wenn es dort hieß: „Notwendig ist, dass die Arbeiter und die Volksmassen in der Ukraine ihre reaktionäre Regierung stürzen und den imperialistischen Krieg in einen revolutionären Bürgerkrieg und Befreiungskrieg - gegen alle Imperialisten - verwandeln. Und sich dabei mit den russischen Arbeitern und Soldaten in deren Kampf zum Sturz der reaktionären Putin-Regierung verbinden. Allerdings nicht ‚weiterhin‘, wie du schreibst, sondern als Vorbedingung (für die Unterstützung des Kampfes – Anm. der Verf.).“
Das ist eine ultralinke, sektiererische Ausrichtung. Ihre Verwirklichung würde die Massen aufreiben, spalten und unvermeidlich in die Niederlage führen.
Stattdessen bedeutet die Vereinigung von Analyse und Synthese heute vor allem dreierlei:
- Erstens weltweit bewusstseinsbildend zu arbeiten - über den Charakter des Imperialismus und gegen alle imperialistischen Kriegstreiber ebenso wie über den Charakter der eigenen Regierung.
- Zweitens in den betreffenden Ländern und weltweit eine Strategie und Taktik gegen die akute Gefahr des III. Weltkriegs, für den Abzug der russischen Truppen und konsequent gegen das Eingreifen der NATO in den Krieg und entsprechend den jeweiligen Bedingungen des Landes die Kämpfe der Arbeiterklasse und der breiten Massen zu entwickeln.
- Drittens die Organisiertheit im jeweiligen marxistisch-leninistischen Parteiaufbau, in der revolutionären Weltorganisation ICOR und in einer weltweiten antiimperialistischen und antifaschistischen Einheitsfront zu stärken. Zu dieser Organisiertheit gehört auch die praktische Solidarität wie zum Beispiel in den Spendensammlungen von Solidarität International für den »Ukraine Hilfsfonds« und für die ukrainische und russische Bergarbeiterdelegation zur 3. Internationalen Bergarbeiterkonferenz 2023 (Spendenkonten am Ende des Textes).
Die Rote Fahne-Redaktion bedankt sich herzlich für die lebhafte Diskussion, entschuldigt sich für einige vorschnelle, oberflächliche und zum Teil überhebliche Antworten und hofft, nunmehr zur weiteren Klärung beigetragen zu haben.
Matthias Sauter, Rote Fahne-Redaktion
Monika Gärtner-Engel, Internationalismus-Verantwortliche der MLPD
Drei Möglichkeiten für Spenden:
- Für den Hilfsfonds des Koordinierungsrats der Arbeiterbewegung in der Ukraine (KSRD):
Solidaritäts- und Hilfsorganisation Solidarität International IBAN: DE86 5019 0000 6100 8005 84, Stichwort Ukraine Hilfsfonds - Für die Finanzierung von ukrainischen und russischen Bergarbeiter-Delegationen zur Internationalen Bergarbeiterkonferenz 2023:
Solidaritäts- und Hilfsorganisation Solidarität International IBAN: DE86 5019 0000 6100 8005 84, Stichwort IMC, russische und ukrainische Kumpel - Für die MLPD zur Förderung ihrer antiimperialistischen Politik in Deutschland:
MLPD IBAN: DE76 4306 0967 4053 3530 00 Stichwort: Friedenskampf