Briefwechsel

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Vergessene Solidarität mit den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk?

Zwischen der MLPD und mehreren "Rote Fahne News"-Leserinnen und -Lesern kam es zu einem Briefwechsel, in dessen Rahmen sich die Leserinnen und Leser zu diesem Thema geäußert haben. Die Rote Fahne Redaktion dokumentiert hier die Antwort an einen der Leser, die aber auch an die anderen Leserinnen und Leser gerichtet ist, die dazu geschrieben haben:

Vergessene Solidarität mit den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk?

Das schrieb der Leser

Guten Tag, ich finde die Erklärung des Zentralkomitees der MLPD gut. Leider fehlt mir die Solidarität zu Lugansk und Donezk, Die Region wurde innerhalb der Ukraine nie richtig anerkannt bzw., die Menschen dort hatten nie gleiche Chancen wie Menschen aus der West-Ukraine. Nach meinem Wissen durfte zumindest die Lugansk-Region nicht an den Wahlen 2014 teilnehmen. Der Friedensvertrag bzw. der Minsk-Vertrag wurde von Seiten der Ukraine nie eingehalten, keiner der dreizehn Punkte. Lugansk und Donezk wird überwiegend von Bauern und Arbeitern bewohnt, die sich gegen die rechte Entwicklung in der Ukraine wehren.

 

Klar ist Russland kein guter Verbündeter für die beiden "Republiken", aber es gibt keine Alternative. Ich bin streng gegen den Einmarsch von Russland, finde nur, dass alle Medien und leider auch die Erklärung sich zu viel auf NATO und Russland konzentrieren und sich nicht des Problems in der Ukraine annehmen. Ich kann nicht sagen: „Ich bin für die Freiheit von Palästina und Kurdistan, aber Lugansk und Donezk haben da kein Recht drauf“. Läuft in den Regionen alles gut? Nein. Sind sie sozialistisch? Nein. Sind sie gegen Faschismus? Ja. ... Es heißt nicht umsonst: „Proletarier und Unterdrückte aller Länder vereinigt euch“. „Hände weg von Donezk und Lugansk“, sollte das Motto sein.

Mit solidarischen Grüßen

Antwort der Redaktion:

… Vielen Dank für deine Zuschrift an Rote Fahne News vom 23. Februar, in der du kritisierst, dass die MLPD ihre „Solidarität zu Lugansk und Donezk“ nicht zum Ausdruck bringt. Als Marxisten-Leninisten müssen wir aber auch in diesem Konflikt strikt von den Klassenwidersprüchen ausgehen: Unsere ganze Solidarität gilt hier der Arbeiterklasse und den breiten Volksmassen in der Ukraine, in den Gebieten von Donezk und Lugansk sowie in Russland; im Kampf für den Frieden, gegen jede imperialistische Aggression, für Demokratie, Freiheit und Sozialismus.

 

Du stellst den Kampf um die Freiheit von Palästina und Kurdistan mit dem Kampf für die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk auf eine Stufe. Das ist nicht zutreffend: Die Völker von Palästina und Kurdistan führen einen Kampf um ihre nationale Befreiung von der imperialistischen Unterdrückung durch Israel bzw. der Türkei, des Iran, Iraks und Syriens. Die revolutionären Kräfte verbinden das mit dem Kampf um soziale Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung. Das kann man nicht schematisch auf die Forderung nach Selbständigkeit der beiden „Volksrepubliken“ übertragen.

 

Die verschiedenen Völker der Ukraine wurde lange Zeit vom zaristischen Russland imperialistisch unterdrückt und erkämpften sich ihre nationale Selbstbestimmung im Zuge der Oktoberrevolution – mit dem Ergebnis, sich später freiwillig der sozialistischen Sowjetunion anzuschließen. Als die Ukraine nach dem Zusammenbruch der dann sozialimperialistischen Sowjetunion 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, stand die ukrainische Arbeiterklasse vor der Aufgabe, den Klassenkampf für eine sozialistische Ukraine zu führen, als Bestandteil der Vorbereitung einer internationalen sozialistischen Revolution. Diese Aufgabe steht bis heute an!

 

Dass die kapitalistische Regierung der Ukraine seit 2014 eine zunehmend reaktionäre, nationalistische Unterdrückung der überwiegend russischsprachigen Bevölkerung der Ost-Ukraine betreibt, wird von uns ausdrücklich verurteilt und muss von der ukrainischen Arbeiterklasse als Ganzes zurückgewiesen werden – und umgekehrt müssen sich die Kämpferinnen und Kämpfer in den „Volksrepubliken“ in den Klassenkampf in der Ukraine insgesamt einreihen.

 

Ihre Unterdrückung war und ist auch eine Reaktion auf den zunehmenden Kampf - vor allem der Bergarbeiter der Region - um soziale Rechte und gegen die brutale Unterdrückung ihrer Kämpfe durch die ukrainische Zentralregierung. Dieser Kampf wurde in seinen Anfängen seit 2014 zum Teil von Kräften mit kommunistischem, revolutionären Anspruch und mit roten Fahnen angeführt. Dieser berechtigte Kampf wurde jedoch nicht nur vom neuimperialistischen Russland zunehmend instrumentalisiert, sondern es wurden auch die verschiedenen fortschrittlichen Führer liquidiert und durch reaktionäre Kräfte ersetzt: So sind die „Separatistenführer“ Passetschnik (Lugansk) und Puschilin (Donezk) beide bezeichnenderweise seit Dezember 2021 auch Mitglieder von Putins reaktionärer Regierungspartei „Einiges Russland“.

 

Dass 2014 eine große Mehrheit in Donezk und Lugansk für die Abspaltung von der Ukraine gestimmt hat, geschah einerseits aus Wut über die arbeiterfeindliche Regierung der Ukraine. Andererseits geschah das unter dem vorherrschenden Einfluss von Kräften, die weitgehend von Russland finanziert, militärisch ausgerüstet und medienwirksam als Befreier dargestellt wurden. Ein ähnliches imperialistisches Vorgehen Russlands war bei der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim zu beobachten, aber auch in Moldawien und Georgien.

 

Die Forderung nach Selbständigkeit und Abtrennung von der Ukraine richtet sich objektiv gegen die Kampfeinheit der ukrainischen Arbeiterklasse und den gemeinsamen aktiven Volkswiderstand der Massen. Sie erschwert übrigens auch bis heute erheblich die Arbeit der ukrainischen revolutionären Kräfte im Kampf gegen die massive antikommunistische Unterdrückung durch die ukrainische Regierung und durch den russischen Imperialismus im Osten des Landes.

 

In einem Telefoninterview mit Rote Fahne News berichtete am 11. Juli 2014 ein Genosse der ICOR-Organisation "Koordinierungsrat der Arbeiterbewegung der Ukraine" (KSRD): „Russland deformiert bewusst den Protest im Osten, schickt dort auch faschistische Kämpfer hin. Sie drängen den Menschen, die unter roten Fahnen protestieren, ihre faschistische Symbolik auf, oder versuchen das. Das ist eine bewusste Politik Putins, denn Putin braucht nicht so große Territorien mit Menschen, vor allem Bergarbeitern, die Gewehre in den Händen haben. Putin fürchtet bewaffnete Arbeiter. ... Sie versuchen, diese Gruppen den Reaktionären unterzuordnen. In Donezk und Lugansk bekommen nur die, die bereit sind, sich Russland unterzuordnen, Unterstützung aus Russland. Die Gruppen, die bestimmte soziale Programme durchführen, 'Nationalisierung' (der Industriebetriebe) fordern, erhalten keine Unterstützung - im Gegenteil.“

 

Und erst vor kurzem schrieben die Genossen der MLP aus Russland, die derzeit einen äußerst mutigen Kampf gegen den imperialistischen Hauptfeind im eigenen Land führt: „Hätte sich Putins reaktionäres Regime um das Schicksal der Bevölkerung in der Region Donezk gekümmert, wäre die Anerkennung der Volksrepubliken bereits 2014 erfolgt. In der gesamten Ukraine finden derzeit Kämpfe in Regionen statt, in denen die Mehrheit der Bevölkerung die Aussicht auf eine Unterwerfung unter das diktatorische Regime Putins ablehnt.

 

Die russische Propaganda rechtfertigt die Aggression mit der Notwendigkeit, Donezk und Lugansk zu unterstützen, die sich 2014 gegen Kiew aufgelehnt haben. Aber heute sind es keineswegs die Volksrepubliken, die vor acht Jahren gegründet wurden. Volksnahe Führer und Kommandeure wurden physisch eliminiert oder inhaftiert, während sich Donezk und Lugansk in bettelarme Marionettenregime verwandelt haben, die vollständig vom Kreml abhängig sind. Die Rechtfertigung des russischen Regimes, die Bevölkerung von Donezk und Lugansk zu schützen, ist genauso wenig wahr wie die Behauptung des zaristischen Regimes, Russland hätte in den Ersten Weltkrieg eintreten müssen, um das angegriffene Serbien zu schützen, oder die Behauptung der NATO zu Beginn dieses Jahrhunderts, Jugoslawien müsse bombardiert werden, um die albanische Bevölkerung des Kosovo zu schützen.“ (Erklärung vom 6.3.2022)

 

Um über ihren russisch-nationalistischen Kurs hinwegzutäuschen, benutzen die bürgerlichen „Separatistenführer“ die demagogische Bezeichnung „Volksrepublik“, die sie dem sozialistischen Vokabular entlehnt haben. Sie hatten und haben aber kein Interesse an der Lösung sozialer Fragen und sind aggressiv antikommunistisch. Genossen der ICOR-Organisation KSRD aus der Ukraine berichteten ebenfalls schon Ende 2014: "Auf die Frage nach Wasser, Arbeit in den Fabriken und Renten antworten sie, dass später Russland helfen will. ... In einem großen Teil des Gebiets beginnt die Bevölkerung, eine Änderung der sozialen Politik, der sozialen Programme zu verlangen."

 

Unterdessen sind von den 5,5 Millionen Einwohnern aus Donezk und Lugansk 1,5 Millionen geflohen und besonders die ehemaligen Bergarbeiter sind entweder arbeitslos oder müssen unter Bedingungen arbeiten, die schlechter sind als je zuvor. Das ist keineswegs das, was sie sich als Resultat ihrer Kämpfe versprochen haben. Deswegen haben sie die russischen Truppen auch nicht mit Blumen empfangen, sondern viele leisten ebenfalls Widerstand gegen die Invasion.

 

Für die fortschrittlichen Kräfte aus Donezk und Lugansk, insbesondere die Bergarbeiter, gilt es, den Kampf gegen die Unterdrückung durch die ukrainische Regierung mit dem Kampf gegen sämtliche imperialistischen Räuber, ob Russland, NATO / EU oder China zu verbinden und nicht zuletzt ihre sozialen, ökonomischen und ökologischen Forderungen in den Klassenkampf in der Ukraine einzubeziehen.

 

Die Parole „Hände weg von Donezk und Lugansk“ unterstützt objektiv den russischen Imperialismus. Sie ist heute vor allem eine opportunistische Position der verschiedenen revisionistischen und neorevisionistischen Kräfte, die zunehmend eine sozialchauvinistische Unterstützung der neuimperialistischen Aggression Russlands vertreten oder bereits, wie die KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation), tief in diesem Sumpf feststecken.

 

Die revolutionäre Weltorganisation ICOR unterstützt ihre Mitgliedsorganisation KSRD dagegen im aktiven Widerstand gegen jede Art der imperialistischen Einmischung und in ihrer Überzeugungsarbeit für eine grundlegende Lösung durch den Kampf für eine vereinigte sozialistische Ukraine.

 

Mit solidarischen Grüßen

Sascha Bergmann