Amtsgericht Hamburg
Balkonisten keine „Straftäter“ – aber trotzdem 300 Euro Bußgeld für jeden!
Am 21. Juni wurden die Hamburger „Balkonisten“ Irene und Stephan Brandt vom Hein-Köllisch-Platz auf St. Pauli zu je 300 Euro „Bußgeld“ sowie zu den Gerichts- und Anwaltskosten verurteilt, weil sie Balkonkonzerte nicht behördlich als „Versammlungen“ angemeldet hatten.
Die Kollegen und Freunde, die zu einer kurzen, kämpferischen Kundgebung vor dem Strafgerichtsgebäude zusammengefunden hatten und die die beiden Angeklagten auch während der Verhandlung begleiteten, reagierten mit Fassungslosigkeit und Empörung auf dieses Urteil.
Für Polizei und Staatsanwaltschaft waren die Balkonkonzerte „anmeldepflichtige Versammlungen“. Die Begründung: Weil nicht nur gesungen, sondern auch politische Redebeiträge gehalten worden seien. Die Staatsanwaltschaft wollte die Balkonkonzerte ursprünglich sogar als „Straftat“ geahndet haben und verlangte 1800 Euro Geldstrafe für jeden, bei Zahlungsunfähigkeit ersatzweise Freiheitsstrafe. Das ging sogar dem Amtsgericht zu weit.
Am 7. April hatte es die Strafbefehle bereits abgelehnt, weil „ … die Balkonkonzerte keine Rechtsgüter verletzt oder ernsthaft gefährdet haben.“ Dieser Beschluss kam einem Freispruch gleich. Es musste aber unbedingt eine Strafe her! Denn es ging hier um nicht mehr und nicht weniger als darum, einen Präzedenzfall zur Kriminalisierung des linken Protests zu schaffen. Die Staatsanwaltschaft legte gegen den Beschluss des Amtsgericht Beschwerde ein und das Landgericht Hamburg gab ihr Recht. So kam es doch noch zum Prozess.
Und der wurde zu einem Lehrstück in Sachen bürgerliche Justiz:
Der Richter verlas z. B. Protokolle im Wortlaut, die Polizeibeamte während sechs Konzerten angefertigt hatten. Diese Protokolle unterstellten von vornherein, dass die Konzerte „unangemeldete Versammlungen“ wären. Sie waren zugleich Ausdruck einer minutiösen Bespitzelung der „Balkonisten“. Die Staatsanwältin sprach penetrant von „sogenannten“ Balkonkonzerten. Im Übrigen war auch von Anfang an das Landeskriminalamt Hamburg eingeschaltet.
Die Wirkung der Konzerte, die Solidarität unter der Nachbarschaft, die Freude an der Musik, das Bedürfnis nach Informationen und die treffende Kritik an der chaotischen regierungsamtlichen Corona-Politik – all das musste ausgeblendet und auf die formale Vorschrift gepocht werden, dass es sich um anmeldepflichtige „Versammlungen“ gehandelt hätte.
Jede Beweisführung des Rechtsanwalts, jeder Redebeitrag der Angeklagten stand für die Wahrnehmung und Verteidigung von Grundrechten, gestützt vor allem auf das Recht auf Meinungsfreiheit. Trotzdem verlangte die Staatsanwaltschaft weiter die Verurteilung der beiden uneingeschüchterten, selbstbewussten Rentner im Alter von 85 bzw. fast 80 Jahren als „Straftäter“. Es war insofern ein wichtiger Teilerfolg, dass das Gericht dem nach wie vor nicht gefolgt ist. Trotzdem hat es aber wegen einer „Ordnungswidrigkeit“, nämlich eines Verstoßes gegen die Hamburger Corona-Eindämmungsverordnung, ein Bußgeld verhängt. Entsprechend schwach war auch die Begründung des Gerichts: Was hätte ohne Anmeldung der Konzerte, d. h. ohne Polizeipräsenz, wohl nicht alles passieren können, wenn sich, so der Richter wörtlich, statt der üblichen zehn oder auch 25 Zuhörer auf dem Platz „50, 100 oder gar 10.000“ Zuhörer auf dem Platz sich versammelt hätten. (Schwant ihm da etwa einiges für die Zukunft?)
Der Prozess und das Urteil stehen für eine weitere Rechtsentwicklung der Justiz. Allem Anschein nach haben die Herrschenden schon gewaltig die Hosen voll vor künftig unweigerlich zunehmenden Protesten.
Nicht von Ungefähr betrachten Nachbarn vom Hein-Köllisch-Platz das Urteil auch als gegen sie gerichtet. Die beiden „Balkonisten“ haben gegen dieses Urteil Beschwerde einlegt, zumal die Empörung unter zahlreichen Nachbarn und Freunden groß ist und sich unmittelbar nach dem Prozess bereits eine Welle der Solidarität – auch durch Spenden für die Prozesskosten – entwickelt.