Leserbrief und Autorenantwort

Leserbrief und Autorenantwort

Briefwechsel zu Korrespondenz über E.T.A. Hoffmann

Den folgenden Brief, der sich auf den "Rote Fahne News"-Artikel: „Am 25. Juni vor 200 Jahren starb E.T.A. Hoffmann“ bezieht¹, erhielt die Rote Fahne Redaktion von einem Leser:

Sehr geehrter Korrespondent, in einem Artikel auf Rote Fahne News haben Sie geäußert, dass E.T.A. Hoffmann (ich zitiere): "einer der reaktionärsten Vertreter der idealistischen Ideologie und Kultur war". Das ist falsch.

 

Die deutsche Romantik, der Hoffmann zugehört, ist das Spiegelbild einer zerrissenen Gesellschaft gewesen, die in ihrer Entwicklung auf der Stelle zu treten schien und in der Fortschritt und Reaktion beständig die Plätze zu tauschen und einander umzufärben schienen. So trat die progressive Entwicklung dieser Zeit, die auf die Durchsetzung des Kapitalismus zielte, vorrangig als Begleiterscheinung des napoleonischen Imperialismus auf und schien natürliches Instrument der Kolonialisierung durch die französische Bourgeoisie zu sein. Daher konnte sich der Widerstand der feudalen Kräfte gegen ihre Entmachtung einen nationalen Anschein geben, schlüpfte er auch in das Gewand einer Verteidigung der nationalen Rechte des deutschen Volkes gegen die westliche Vormacht. Verkehrte Welt! Die Befreiungsbewegung gegen Napoleon, das bedeutendste Ereignis dieser Jahre, stand unter Führung der reaktionärsten Vertreter der überlebten Adelsklasse. Leute, die es witzig mögen, würden sagen, deutsche Taliban haben den westlichen Imperialismus besiegt.

 

Bei diesen historischen Gegebenheiten konnte es nicht ausbleiben, dass auch die Romantik, die stärkste, die breiteste, die alle Klassen Schichten erfassende Kultur- und Literaturbewegung der Zeit, innerlich zerrissen, dass sie eine undialektische Einheit von Gegensätzen war, die heftig aufeinanderprallten. Es gab viele reaktionäre Romantiker, es gab noch mehr Romantiker, die angesichts der komplizierten Entwicklung zwischen Fortschritt und Reaktion schwankten (und meistens von der Reaktion absorbiert wurden). Und es gab progressive, liberale Romantiker wie die Brüder Grimm, wie Uhland, Wilhelm Hauff, Chamisso, Wilhelm Müller. Und wie E.T.A. Hoffmann.

 

Er war kein Berufschriststeller, sondern Kammergerichtsrat in Berlin und hat als solcher die Demagogenverfolgung, die Unterdrückung der fortschrittlichen Kräfte, heftigst sabotiert. Wenn er sich nicht totgetrunken hätte, wäre er aus dem Dienst geflogen.

 

Seine Zeit - diese Epoche absolutistischer Reaktion nach den Befreiungskriegen - war ihm zutiefst zuwider und natürlich auch ihre typischen Vertreter: Bornierte Junker, profitbesessene kleinkarierte Bürger, kriecherische Beamte (eine Menschenart, die auch den Sozialismus sehr geplagt hat und ihren Teil an seiner Niederlage trägt). Seine Erzählungen und Romane sind voll ausgezeichneter satirischer Porträts dieser unheroischen Ritter und Knappen der preußischen Klassengesellschaft. Die Dunkelheit, die Hoffmann vorgeworfen wird, erzeugt seltsamerweise ein ziemlich helles Licht, um diese sozialen Typen auszuleuchten.

 

Hoffmanns Literatur ist ein künstlerischer Spiegel der liberalen Bourgeoisie seiner Epoche, eine Klasse, deren Zukunft damals noch nicht hinter ihr lag. Im Gegenteil. Sie hat Deutschland in späteren Jahrzehnten ganz in ihrem Sinne umgeformt und zu einem führenden Industrieland gemacht. Aber das hat sie eben nicht im entschiedenen Kampf gegen Reaktion und Junkertum bewirkt, sondern sich erkauft und erschlichen. Wenn Hoffmann diese Zeiten auch nicht mehr erlebt hat, so hat er doch einige besonders unsympathische Charakterzüge der sich herausbildenden preußischdeutschen Bourgeoisie vorweggenommen.

 

Hoffmann war daher keiner der reaktionärsten, sondern ein progressiver Vertreter der idealistischen Ideologie und Kultur des deutschen Bürgertums um 1820. Deshalb hat er auch als einer der ersten deutschen Schriftsteller neben Goethe weltliterarischen Einfluss erlangt. Und sogar für einen nicht unwesentlichen Strang der sozialistischen deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts besitzt er große Bedeutung. Ich nenne nur Anna Seghers und ihren herausragenden Roman: "Das siebte Kreuz". Diese Geschichte, in der normaler Alltag unsagbares Grauen in sich birgt und das Grauen der faschistischen Herrschaft in den Alltag schlüpft, in der fast nichts so ist, wie es sich auf den ersten Blick darstellt, in der jede Person, jede Episode, jede Wendung einer Prüfung durch Erzähler (und Leser ) unterzogen werden muss - diese Geschichte ist eine zutiefst hoffmaneske Erzählung.

Mit freundlichen Grüßen

Das antwortete der Autor des Artikels:

Bei der Charakterisierung eines Schriftstellers gibt es eine fachlich-literarische, eine politische und eine weltanschauliche Seite, die natürlich untrennbar zusammenhängen, aber auch nicht einfach gleichgesetzt werden dürfen. So habe sich Karl Marx über die „in ein Märchengewand gekleidete Satire“ in Hoffmanns ‚Klein Zaches‘ sehr amüsiert. (Franziska Kugelmann aus Mohr und General)

 

Mir ging es in der Korrespondenz um die weltanschauliche Seite. Wegen seines Mystizismus wird er vom herrschenden Kulturbetrieb gewürdigt, und von dem Marxist-Leninist A.A. Shdanow kritisiert. Dass er Mystizismus verbreitete, da sind sich beide Seiten einig. Die NZZ würdigt an ihm: „Wer über den Wahnsinn schreibt, ist immer modern. Die Zeiten können sich ändern, aber die, die aus den Wirklichkeiten der Gegenwart herausfallen, scheinen tief in einen Zustand der Zeitlosigkeit hineinzukippen. In einen Zustand, der mit dem Menschsein selbst zu tun hat. Über diese dunklen Räume des Ichs hat der Romantiker E.T.A. Hoffmann geschrieben. Er hat sich Jenseitswelten ausgedacht, in denen es Roboter und Cyborgs gibt, Paranoia und Doppelgänger. Tiere können sprechen und sind mit einer übermenschlichen Vernunft begabt. Die Feder des Wahns spannt sich in E.T.A. Hoffmann selbst. Seine Überspanntheiten sind eine sympathetische, an der kreativen Vernunft hängende Form der Verrücktheit. Was nur einer wie er sehen kann, spielt er im Schreiben noch einmal durch. In einem Werk, das voller Spiegel und Doppelgänger ist. Voller Täuschungen und Umkehrungen der Wirklichkeit."

 

In dem Shdanow–Zitat in der Korrespondenz kritisiert er den Mystizismus und andere solche Richtungen als Ausdruck einer reaktionären Weltanschauung herrschender Ausbeuterklassen, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Es ist kein Zufall, dass eine der kritisierten reaktionären Richtungen in der Sowjetunion sich den Namen Serapionsgruppe gab, nach den gleichlautenden Werken Hoffmanns, und sich als dessen Fortsetzer betrachteten. Lew Lunz als Mitglied dieser Gruppe charakterisierte die Richtung 1922 so: „Wir haben uns in den Tagen der Revolution, in den Tagen der politischen Hochspannung zusammengefunden. ‚Wer nicht für uns ist, der ist wider uns!‘, sagte man uns damals von allen Seiten. ‚Für wen seid ihr Serapionsbrüder, für die Kommunisten oder gegen die Kommunisten, für die Revolution oder gegen die Revolution?‘ Für wen wir Serapionsbrüder sind? Wir sind für den Eremiten Serapion. … Qualvoll und viel zu lange wurde die russische Literatur von der öffentlichen Meinung dirigiert. … Wir wollen keinen Utilitarismus. Wir schreiben nicht für die Propaganda. Die Kunst ist real wie das Leben selbst, und so wie das Leben ist sie ohne Ziel und ohne Sinn, sie existiert, weil sie existieren muss.“ (Nach Sdanow, Ausgewählte Reden zu Kunst… S.18)

 

Eine solche ‚L’art pour l’art‘ braucht die Arbeiterklasse nicht. Auch jede Form des Mystizismus, der Flucht in Scheinwelten, steht ihren Klasseninteressen entgegen. Sie will und muss mittels des dialektischen Materialismus, der Anwendung der dialektischen Methode die reale Welt erkennen um sie entsprechend ihren Klasseninteressen zu ändern.

Mit herzlichen Grüßen!

Der Autor