Buchtipp

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Wassili Grossman: „Stalingrad“

In diesen Tagen jährt sich das Ende der Schlacht um Stalingrad – die militärische Wende im Zweiten Weltkrieg bis zum Sieg über den Hitler-Faschismus.

Von jsch
Wassili Grossman: „Stalingrad“

Zu diesem Ereignis empfehle ich das Buch des sowjetischen Schriftstellers Wassili Grossman, „Stalingrad“. Es ist kein Kriegsroman. Grossman taucht vor dem Hintergrund des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion und die zunächst unüberwindlich scheinende Übermacht des Hitler-Faschismus tief ein in das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen. Der Kolchosbauern und -bäuerinnen, der Stahlarbeiter, der Betreuerinnen eines Kinderheims, von Wissenschaftlern aus dem Bereich der Atomphysik, von politischen Kommissaren und einfachen Soldaten. Ihr Leben wird fein gesponnen entfaltet und man bekommt ein differenziertes Bild vom Leben der Arbeiter und der breiten Massen und wie sich ihr sozialistisches Bewusstsein entwickelt.

 

Das alles ohne Pathos. Mit einer großen Liebe zum Detail werden die gesellschaftlichen Widersprüche thematisiert, um sie austragen zu können. So erfahren wir vom Kolchosbauern Wawilow, der unmittelbar vor seiner Einberufung in die Rote Armee die Gedanken schweifen lässt: „Er hatte miterlebt, wie in das Dorf, in dem sein Vater nur Pflug und Dreschflegel, Sense und Sichel kannte, ein Traktor und ein Mähdrescher gekommen waren. Er hatte miterlebt, wie junge Burschen und Mädchen die Dörfer verließen, um als Agronomen, Lehrer, Mechaniker und Zootechniker zurückzukehren (…) Der alte Puchow fand, heute lebe es sich schlechter als früher. Er rechnete vor, wie viel das Getreide unter dem Zaren gekostet hatte (…) und kam zu dem Ergebnis, dass es sich damals leichter lebte. Wawilow stritt mit ihm, er fand: Je mehr das Volk dem Staat helfe, desto mehr helfe der Staat später dem Volk. Ältere Frauen sagten: ‚Jetzt gelten wir als Menschen, aus unseren Kindern werden große Leute; vielleicht waren unter dem Zaren die Stiefel billiger, aber wir und unsere Kinder waren nichts wert.‘ Wawilow sah sich noch einmal um. Er hatte sich immer gewünscht, das Leben wäre so weit, so hell wie dieser Himmel, er arbeitete, um das Leben emporzuheben. Und das taten er und Millionen seinesgleichen nicht umsonst. Das Leben ging bergauf.“ (S. 55/56)

 

Grossman schöpft aus seinen persönlichen Erfahrungen. Er war Journalist, später selbst Soldat bei der Roten Armee und kannte die Kriegsschauplätze, die Ängste, Hoffnungen und Triebkräfte der Menschen aus eigener Erfahrung. Das Buch ist auch deshalb so wertvoll, weil es insbesondere der antikommunistischen Hetze gegen Stalin den Wind aus den Segeln nimmt. Worüber und wie sich die Leute in diesem Roman unterhalten; welches Bild sie von ihrem Leben haben; wie z. B. das Selbstbewusstsein der Frauen zum Ausdruck kommt; welche praktischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen um die Produktion, die Wissenschaft, die gesellschaftlichen Ziele geführt werden – das wäre unter der von den Antikommunisten beschworenen „stalinistischen Terrorrherrschaft“ unmöglich!

 

Grossmans Roman gibt es bisher nur gebunden, für 35 Euro. Dafür bekommt man rund 1.300 Seiten Einblicke in die sozialistische Sowjetunion. Parallel dazu habe ich Willi Dickhuts Buch, „Proletarischer Widerstand gegen Faschismus und Krieg“ studiert – als zeitgleiche Widerspiegelung der Entwicklung in der Sowjetunion in den Analysen, Einschätzungen und damit verbundenen Hoffnungen und Kämpfen der Kommunisten in Deutschland. Beide Bücher sind als Quellen weltanschaulicher Überzeugungskraft und unerschütterlicher Kampfmoral sehr zu empfehlen.

 

Wassili Grossman
Übersetzt von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe
Claassen, Berlin 2021
1280 Seiten
35,00 Euro
Bestellen bei People to People

 

Rezension in Deutschlandfunk-Kultur

 

Im Rote-Fahne-Magazin 3/2023 sind im Artikel "Der Sieg von Stalingrad: Viele Menschen schöpften Hoffnung" (S.38f) Auszüge aus dem Roman von Wassili Grossman enthalten. Hier kann man die Ausgabe kaufen.