Kein Zufall
ICOR-Geburtsklinik hat Erdbeben komplett unbeschadet überstanden!
In der riesigen Welle von Solidarität und Hilfe für die Überlebenden und Angehörigen sowie Trauer um zehntausende Opfer der Erdbebenkatastrophe werden vor allem in der Türkei zunehmend Wut und Proteste laut.
Dass so viele in den letzten Jahren errichtete Gebäude wie Kartenhäuser einstürzten, lässt sich nur mit einem Totalversagen der Erdbebenvorsorge erklären. Zur Beruhigung ließ Präsident Erdogan von der faschistischen AKP inzwischen 100 Bauunternehmer demonstrativ festnehmen. Zweifellos waren diese an einer menschenverachtenden Bauweise beteiligt. Doch es ist mehr als zynisch, wenn ausgerechnet der Hauptverantwortliche jetzt auf andere zeigt nach dem Motto „Haltet den Dieb“! Die Führungsspitze der AKP und Erdogan persönlich sind eng mit einem ganzen Geflecht von Baumonopolen verwoben.
Das nordsyrische Kobane unmittelbar an der türkischen Grenze war auch vom Erdbeben betroffen. Dort liegt die ICOR-Geburtsklinik, die 2015 von 140 internationalen Brigadisten der revolutionären Weltorganisation ICOR zusammen mit einheimischen Bauarbeitern und der kurdischen Selbstverwaltung errichtet wurde. Das Gebäude hat den jetzigen Erdstößen in jeder Hinsicht standgehalten und keinerlei Schäden erlitten.
Beim Bau waren umfangreiche Maßnahmen zur Erdbebenvorsorge ergriffen worden, die dem hohen Standard „2+“ der international genormten Gefahrenklassifizierung genügen. Unter das Gebäude wurde eine ausgeklügelte Kombination von Streifen- und Einzel-Fundamenten gesetzt, die sowohl waagrechte Bodenschwingungen als auch senkrechte Erdstöße abfangen. Die in der Region häufig anzutreffende Bauform mit Betondecken auf Pfeilern hält den Scherungskräften bei starken waagrechten Schwingungen so nicht stand. Sie wurde deshalb durch ein System von L-, T- und U-förmigen Verstärkungen aus Stahlbeton unterfüttert. Zusätzlich wurde die Bewehrung der Decken in diesen Verstärkungselementen fest verankert und damit die zerstörerischen Scherungskräfte abgefangen.
Die ICOR-Geburtsklinik ist ein Vorbild, wie Gebäude in erdbebengefährdeten Regionen errichtet werden müssen und enthüllt ein mutwilliges Verbrechen der türkischen Regierung, die entsprechende Maßnahmen in der Türkei weitestgehend missachtet hat. Sicher hätten nicht alle Opfer verhindert, aber doch viele vermieden werden können.
Dieses Verbrechen wird auch durch Auseinandersetzungen unterstrichen, die es bei der Planung der ICOR-Geburtsklinik gegeben hatte. Die Statik der ICOR-Geburtsklinik, d.h. die bauliche Ausgestaltung der Fundamente, Wände und Decken, wurde von einem renommierten Ingenieurbüro in Deutschland berechnet. Dafür wurde ein amtlicher Nachweis zur Einstufung der Region in die Risikoklassifizierung von Erdbeben verlangt. Weil die lokalen Behörden in Kobane nach dem Krieg gegen den IS keine Unterlagen mehr hatten, wurden dazu Ingenieure und Behörden in der benachbarten Türkei befragt. Sie alle gingen von einem relativ geringen Risiko aus, was in der international genormten Skala der Klasse „1“ entsprechen würde.
Das erschien uns nicht plausibel, weil die sogenannte „ostanatolische Störung“ nur ca. 150 km entfernt ist, wo sich die arabische Kontinentalplatte unter die anatolische Platte schiebt. Genau hier liegt auch das Epizentrum der jetzigen Katastrophe. Wir hatten damals dann eigenständig in Unterlagen der Universität Damaskus recherchiert und sind auf die entsprechenden Dokumente gestoßen. Dabei fiel auf, dass die in der Türkei genannten Angaben nur Erdbeben mit einer Wiederholungszeit von maximal 100 Jahren betrachtet hatten. Nach den internationalen Standards müssen aber auch Erdbeben bis zu 475 Jahre zurück mit zugrunde gelegt werden. Das führte uns zu einer Einstufung in die viel höher bewertete Risiko-Klasse „2“, was durch das jetzige Erdbeben zur traurigen Realität geworden ist.