Großbritannien
Interview mit Doug Nicholls, Generalsekretär der General Federation of Trade Unions
Die Arbeiterklasse nicht nur in Deutschland schaut auf die Massenkämpfe in Großbritannien, die nun schon seit letztem Sommer andauern und Anfang Februar mit einer halben Million Streikenden eine neue Stufe erreicht haben. Ein Genosse der MLPD konnte mit Doug Nicholls, einem der führenden Gewerkschafter in dieser Streikbewegung und in Großbritannien eine bekannte öffentliche Persönlichkeit, das folgende Interview führen.
Wie ist die Situation der Arbeiter und der breiten Massen in Großbritannien und was sind die wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Ziele der Streikenden?
Der Versuch, die in den Gewerkschaften organisierten Arbeiter zum Schweigen zu bringen und zu kriminalisieren, hat nicht funktioniert. Das zentrale Ziel der neuen neoliberalen Ordnung war es, die organisierte Arbeiterschaft zu besiegen. Sie haben versagt. Jetzt zeigt sich, dass die Gewerkschaften wieder auferstanden sind und mit Nachdruck ihre Stellung in der Gesellschaft und die Bedeutung der Arbeiter bei der Produktion von allem, was Wert hat, wieder geltend machen. Es ist jedem klar, dass die Gewerkschaften den Kampf gegen die Profitmacherei und gegen die Absenkung der produktiven Wirtschaft anführen. Jeder weiß, dass die Krise der Lebenshaltungskosten politisch herbeigeführt wird, um den Profit zu maximieren und dass die Gewerkschaften die wichtigsten Organisationen sind, die dagegen ankämpfen können.
Im Gegensatz zu früheren Perioden in den siebziger und achtziger Jahren, als doppelt so viele Menschen in den Gewerkschaften waren und der Kampf um die Löhne der wichtigste Kampf für die Gewerkschaften war, mussten wir aus einer Position der Schwäche heraus kämpfen. Aber im Gegensatz zu diesen Zeiten gibt es heute viel mehr öffentliche Unterstützung, als ich in meinem Leben je erlebt habe. Die Streiks und die laufenden Maßnahmen stellen sicher, dass die Löhne nicht hinter den unverschämten Gewinnen und der Inflation zurückbleiben, und jeder erkennt dies an, und es gibt eine große Unterstützung in der Bevölkerung.
Es ist also eine gute Zeit für die Wiedergeburt der Gewerkschaften, die ihre Mitgliederzahl erhöhen und sich trotz allem, was ihnen in den letzten vierzig Jahren entgegengeschleudert wurde, stark fühlen. Die gesamte Gesetzgebung macht Arbeitskampfmaßnahmen sehr schwierig. Alle Versuche, neue Gesetze einzuführen, um Streiks noch mehr zu erschweren, alle Versuche, die Gewerkschaften für schlecht zu erklären und alle Versuche, Gesetze gegen sie zu erlassen, sind völlig gescheitert.
Die Streiks haben nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Ziele. Die britische Regierung greift die Rechte der Arbeiter und das Recht auf Streik und Protest auf neue Art und Weise massiv an. Dabei geht sie jedoch ungeschickt und wirkungslos vor. Frühere Tory-Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten hatten mehr Erfahrung mit dem Klassenkampf, weil viele von ihnen in der politischen Arbeit gegen die Gewerkschaftsbewegung groß geworden sind. Sie wussten, wie man mit Streiks, gewerkschaftlichen Urabstimmungen und so weiter umgeht. Die vorherige Generation der konservativen Regierungen und einige Arbeiterregierungen waren viel erfahrener im Umgang mit den Gewerkschaften und versuchten, sie zu verführen, zu zerstören oder auszumanövrieren. Diese Regierung ist in diesen Konflikten sehr, sehr inkompetent im Umgang mit Kämpfen, weil sie in ihrem Leben und in ihrem persönlichen Umfeld nicht mit Kämpfen in dieser Intensität zu tun hatten.
Deshalb gibt es einen bedeutenden Teil der politischen Opposition, der einfach nicht versteht, was hier passiert. Sie verwenden einfache Antworten, sie sagen einfach nein zu Lohnerhöhungen usw.. Das kommt bei den Menschen nicht gut an. Sie wissen, dass die Position der Regierung sehr schwach ist und dass es unhaltbar ist, wenn die Regierung sagt, dass Lohnerhöhungen Inflation verursachen. Jeder weiß, dass das absoluter Blödsinn ist. Das ist ein großer Fortschritt, denn in früheren Jahrzehnten sagten sogar einige Gewerkschaften, dass Lohnerhöhungen die Inflation verursachen oder verschlimmern. Jetzt sagt das niemand mehr. Nicht in der Öffentlichkeit, nicht in den Gewerkschaften. Es gibt nur ein oder zwei konservative Politiker, die das sagen und die werden lächerlich gemacht.
Unterschätzt die Regierung die Streikenden?
Ja. Es gibt einige Gewerkschaften, die jetzt streiken, die früher Klauseln in ihren Satzungen hatten, die besagten, dass sie niemals streiken würden. Das Royal College of Nurses zum Beispiel, in dem über 400.000 Krankenschwestern organisiert sind, hat gestreikt. Früher haben sie sich gegen Streiks gewendet. Die Situation ist so schlimm geworden, dass sie gezwungen waren, zu streiken. Viele der leitenden Angestellten des Gesundheitswesens und der Krankenwagenfahrer und viele andere, einschließlich der meisten Ärzte und Berater in ihrer Gewerkschaft, haben sich jetzt mit unglaublichem Nachdruck für Streiks ausgesprochen. Bei den Ärzten stimmten 98% dafür.
Bei den Postdiensten streikt die Gewerkschaft Communication Workers' Union gegen Royal Mail. Es gab Hunderte und Aberhunderte von Schikanen gegen lokale Gewerkschaftsfunktionäre, und viele wurden entlassen. Aber auch das funktioniert nicht. Die Gewerkschaft lehnt jegliche Einigung ab, solange ihre entlassenen Mitglieder nicht wieder arbeiten und die Schikanen nicht aufhören. Und ich denke, sie werden in der nächsten Zeit noch stärker für die Fortsetzung der Streiks stimmen. Ja, die Regierung unterschätzt die Tatsache, dass die Arbeitnehmer im allgemeinen, ob in den Krankenhäusern, bei der Post, im öffentlichen Dienst oder bei den Lehrern, alle verstehen, dass die einzige Möglichkeit, mit der schrecklichen Profitmacherei der großen Unternehmen, die diese Inflationskrise verursacht hat, fertig zu werden, darin besteht, für die Löhne zu kämpfen.
Die Labour Party versucht, den verlorenen Einfluss auf die Arbeiterklasse zurückzugewinnen. Wie denken die Arbeiter darüber?
Als Jeremy Corbyn in der Labour Party war, gab es viele Menschen, vielleicht eine halbe Million, die Mitglied bei Labour waren. Hunderttausende von ihnen haben jetzt die Partei verlassen. Im Vergleich zu den 35 Millionen Arbeitnehmern ist die Labour Party eine sehr kleine Partei. Sie spielt im Arbeitskampf keine Rolle. Die Führung von Labour hat versucht, Mitglieder des Parlaments zu disziplinieren, wenn sie an den Streikposten mit den Arbeitern teilnehmen. In der Opposition im Parlament kritisieren sie die Regierung für ihre Haltung zu den Streiks, während sie keine sinnvollen wirtschaftlichen Alternativen zur Beendigung der Lebenshaltungskostenkrise vorschlagen.
Die Streikenden kämpfen nicht nur um wirtschaftliche und politische Fragen. Sie haben so viel Sympathie, weil sie auch ein positives und optimistisches Signal des Kampfes gegen die zunehmend krisenhafte gesellschaftliche Entwicklung des britischen Imperialismus setzen. Welche Bedeutung haben dabei die Kapitalismuskritik und die Perspektive des Sozialismus?
Die Perspektiven der verschiedenen Gewerkschaften sind unterschiedlich. Und es gibt einige, wie die Eisenbahner und die Kommunikationsarbeiter, die klar gesagt haben, dass wir einen großen Systemwandel brauchen. Sie sind zu Recht der Meinung, dass die organisierten Arbeiter alle Arbeiter inspirieren müssen, ob sie nun in der Gewerkschaft sind oder nicht. Sie sagen, nur durch kollektives Handeln kann man einen Wandel erreichen, um einer neuen Generation die Bedeutung des gemeinsamen Kampfes zu vermitteln.
In der Gewerkschaftsbewegung sind 6,5 Millionen Arbeitnehmer organisiert. Die Zahl der Erwerbstätigen beträgt jedoch 26 Millionen. Gewerkschaften wie die RMT (Eisenbahner) und die Communication Workers Union (Post, Internet) haben sich an erbitterten Streiks beteiligt, um mehr Lohn für ihre Mitglieder zu erreichen. Aber sie haben auch Organisationen in der breiteren Gemeinschaft gegründet und entwickelt, um zu sagen, dass es jetzt genug ist. Damit meinen sie, dass die Privatisierung, das Chaos der kapitalistischen Produktion, die Vorherrschaft der Finanzhäuser, die Vorherrschaft der multinationalen Unternehmen, die absichtliche Schaffung von Armut und die Unterfinanzierung der öffentlichen Dienste usw. inakzeptabel sind. Sie haben eine umfassende politische Vision, die von vielen anderen Gewerkschaften geteilt wird. Einige teilen sie weniger. Dennoch sind sie, wie auch die Krankenschwesterngewerkschaft, bereit, Dinge zu tun, die noch nie zuvor getan wurden, um nicht nur eine bessere Bezahlung in den Krankenhäusern zu erreichen, sondern auch für eine Arbeitsmarktstrategie einzutreten und der Tatsache zu begegnen, dass wir nicht genügend Ärzte und Krankenschwestern haben, um einen ausreichend guten Gesundheitsdienst zu bieten. Wir geben in Großbritannien zum Beispiel weniger für unser Gesundheitswesen aus als in jedem anderen europäischen Land. Diese großen Themen werden also aufgegriffen, während die Menschen für den Wert ihrer Arbeit auch über den Lohn kämpfen.
In jedem Industriezweig kämpfen die streikenden Arbeitnehmer auch für die Verbesserung der Dienstleistung oder des Industriezweigs, in dem sie arbeiten. Hinter dem Lohnstreik bei der Eisenbahn steht natürlich die Idee, dass die Eisenbahn sicherer, kostengünstiger und billiger betrieben werden sollte. Der Kampf der Postangestellten bei Royal Mail ist wirklich ein Kampf um den Erhalt des öffentlichen Postdienstes. Das Unternehmen dort versucht, ihn in ein Gig-Economy-Unternehmen wie Deliveroo oder Amazon zu verwandeln.
Welche Rolle spielt die allgemeine krisenhafte Entwicklung des Imperialismus mit der akuten Gefahr eines dritten Weltkrieges und der Abwälzung der Kriegs- und Krisenlasten auf die Massen?
Niemand in der Welt profitiert davon, wenn ein britischer Arbeiter zu niedrigeren Löhnen ausgebeutet wird. Ein Sieg für einen ist ein Sieg für alle. Die Arbeiter haben unterschiedliche Bewusstseinsstufen und die Erfolge der britischen Arbeiterklasse in den Gewerkschaften waren historisch sehr wichtig für die Welt. Wir sollten also auf keinen Fall die einfachen Fragen der Entlohnung und der Verbesserung der Dienstleistungen von den allgemeinen politischen Fragen trennen. Wenn man als Arbeiter nicht dort für die Löhne kämpfen kann, wo man arbeitet, kann man auch nicht viel für die Arbeiter anderswo tun. Die lokalen und weltweiten Probleme sind miteinander verknüpft.
Das Bewusstsein der Menschen für diese Zusammenhänge ist jedoch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Der Einfluss, den gute Arbeiter in jedem Land auf die Welt haben, wenn sie sehr gut organisiert und sehr diszipliniert im Namen ihrer Klasse handeln, ist immer gut. Was wir hier tun und was ihr in Deutschland tut, sollte eine wichtige Inspiration für Arbeiter in anderen Teilen der Welt sein und sollte nicht nur auf den wirtschaftlichen Kampf reduziert werden. Er sollte nicht von dem umfassenderen Kampf gegen die Macht in ihrer kapitalistischen und imperialistischen Form getrennt werden. Aber wenn man zu einer Streikpostenkette geht und sagt: "Seid ihr euch bewusst, dass dieses Problem, das ihr bekämpft, durch die weltweite Krise des Kapitalismus verursacht wird?", dann bekommt man von verschiedenen Leuten unterschiedliche Antworten. Was ich betone, ist, dass die Aktion, die wir machen, politisch als ein sehr wichtiger Schritt für die Arbeiter überall anerkannt werden sollte.
Du hast von Bewusstseinsbildung gesprochen. Als marxistisch-leninistische Partei sind wir natürlich auch daran interessiert, wie die revolutionäre Arbeiterpartei aufgebaut wird. Welche Erfahrungen, Bemühungen oder Diskussionen gibt es dazu?
In einer Situation wie dieser verschärft sich der Kampf der Ideen, und alle, die einen fortschrittlichen Wandel wollen und die kapitalistische Klassenspaltung überwinden wollen, sind sehr beschäftigt. Die intellektuell und politisch besten Führer werden nicht nur diejenigen mit den besten Ideen sein, sondern auch diejenigen, die den Kampf führen und gute Vorstellungen von der Zukunft haben.
Es ist so, dass jeder extrem beschäftigt ist und sich im Kampf der Ideen engagiert. Die Realität der Geschichte sieht so aus, dass einige Ideen effektiver aufgegriffen werden als andere. Aber nur die Entwicklung langfristiger Ideen würde zu einer größeren, breiteren und tieferen Veränderung führen.
Wir haben in unserer Geschichte schon viele Kämpfe um höhere Löhne erlebt. Der Nutzen dieser Kämpfe war eine neue Phase der Einheit und des Denkens der beteiligten Arbeiter. Generell hat sich in der gesamten Arbeiterbewegung ein bedeutendes neues Denken herausgebildet, das zuvor in so vielen Gruppen, die nicht in der Industrie und an den traditionellen Arbeitsplätzen angesiedelt sind, nicht bekannt war. Wenn man nicht für den Lohn kämpfen kann, wird man nicht in der Lage sein, sich tiefer über den Kapitalismus auseinanderzusetzen. Es ist ein so grundlegender Kampf, weil er den Unterschied zwischen den Interessen der Kapitalisten und unseren in den Vordergrund rückt. Das ist eine positive Sache, und es sind nicht unbedingt Einzelpersonen oder gute Ideen von Parteien, die den wirklichen Unterschied ausmachen, wirkliche Veränderungen gehen von unserer Klasse aus.
Was wird als nächstes passieren, was sind die nächsten Ziele?
Während wir sprechen, hat die Communication Workers Union, die fast eine Viertelmillion Beschäftigte zählt, gerade das Ergebnis der Urabstimmung über die nächste Streikmaßnahme bekannt gegeben. Die meisten lokalen Vertreter, die Schlüsselfiguren in der lokalen Organisation, wurden diszipliniert, entlassen oder schikaniert. Vor diesem Hintergrund liegt das Ergebnis der Urabstimmung bei 95,9 % für die Fortsetzung des Streiks. Die Wahlbeteiligung ist extrem hoch. 77 % der Mitglieder haben an der Urabstimmung teilgenommen. Das ist bedeutend, denn man darf nicht vergessen, dass die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung Briefwahlen vorschreibt. Sie mussten ein sehr strenges System für die Briefwahl bei Streiks einhalten, was die Zahl derer, die abstimmen, reduziert. Die Wahlbeteiligung ist sehr, sehr hoch. Dies scheint sich in vielen Gewerkschaftsgruppen in Krankenhäusern, bei Ärzten, Künstlern und anderen zu wiederholen, wenn es um die Durchführung von Streikaktionen geht. Viele der Gewerkschaftsführer haben in letzter Zeit in der Öffentlichkeit erklärt, dass sie jetzt auf einen langfristigen Streik vorbereitet sind.
Der Streik und die Stimmung sind ungebrochen?
Absolut.
Welche Botschaft oder Erwartungen hast du an die Arbeiterklasse in Deutschland?
Ich persönlich bin der Meinung, dass die beste Form der internationalen Solidarität immer die war, selbst den Kampf aufzunehmen. Bei großen Kämpfen hier, wie dem Bergarbeiterkampf in den achtziger Jahren, musste man Geld und Lebensmittel von der Gewerkschaftsbewegung in der ganzen Welt für die Unterstützung des Streiks bekommen. Aber das Beste, was man tun kann, ist, den gleichen Kampf dort zu führen, wo man ist. Der Kampf für Lohn, für die Würde der Arbeit, gegen die Privatisierung, gegen die unverschämte Profitmacherei der großen Unternehmen und gegen die Verbindungen zwischen diesen Unternehmen und den Kriegs- und Waffenproduzenten in der ganzen Welt. Nehmt den Kampf dort auf, wo ihr seid, und sorgt dafür, dass es in Deutschland nicht so weitergeht.