Interview mit Doug Nicholls, Generalsekretär der General Federation of Trade Unions

Interview mit Doug Nicholls, Generalsekretär der General Federation of Trade Unions

„Was wir hier tun, soll eine Inspiration für die Arbeiter weltweit sein …“

Die Arbeiterklasse nicht nur in Deutschland schaut auf die Massenkämpfe in Großbritannien, die nun schon seit letztem Sommer andauern und Anfang Februar mit einer halben Million Streikenden eine neue Stufe erreicht haben. Ein Genosse der MLPD konnte mit Doug Nicholls, einem der führenden Gewerkschafter in dieser Streikbewegung und in Großbritannien eine bekannte öffentliche Persönlichkeit, das folgende Interview führen.

„Was wir hier tun, soll eine Inspiration für die Arbeiter weltweit sein …“
Anfang Februar 2023 erreichte die Streikwelle in Großbritannien ihren vorläufigen Höhepunkt

Wie ist die Situation der Arbeiter und der breiten Massen in Großbritannien und was sind die wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Ziele der Streikenden?

Der Versuch, die in den Gewerkschaften organisierten Arbeiter zum Schweigen zu bringen und zu kriminalisieren, hat nicht funktioniert. Das zentrale Ziel der neuen neoliberalen Ordnung war es, die organisierte Arbeiterschaft zu besiegen. Sie haben versagt. Jetzt zeigt sich, dass die Gewerkschaften wieder auferstanden sind und mit Nachdruck ihre Stellung in der Gesellschaft und die Bedeutung der Arbeiter bei der Produktion von allem, was Wert hat, wieder geltend machen (…) Jeder weiß, dass die Krise der Lebenshaltungskosten politisch herbeigeführt wird, um den Profit zu maximieren (…) Im Gegensatz zu früheren Perioden in den siebziger und achtziger Jahren, als doppelt so viele Menschen in den Gewerkschaften waren und der Kampf um die Löhne der wichtigste Kampf für die Gewerkschaften war, mussten wir aus einer Position der Schwäche heraus kämpfen. Aber im Gegensatz zu diesen Zeiten gibt es heute viel mehr öffentliche Unterstützung, als ich in meinem Leben je erlebt habe (…) Es ist also eine gute Zeit für die Wiedergeburt der Gewerkschaften, die ihre Mitgliederzahl erhöhen und sich trotz allem, was ihnen in den letzten vierzig Jahren entgegengeschleudert wurde, stark fühlen (…) Alle Versuche, neue Gesetze einzuführen, um Streiks noch mehr zu erschweren, alle Versuche, die Gewerkschaften für schlecht zu erklären und alle Versuche, Gesetze gegen sie zu erlassen, sind völlig gescheitert. Die Streiks haben nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Ziele. Die britische Regierung greift die Rechte der Arbeiter und das Recht auf Streik und Protest auf neue Art und Weise massiv an. Dabei geht sie jedoch ungeschickt und wirkungslos vor (…) Sie sagen einfach nein zu Lohnerhöhungen usw.. Das kommt bei den Menschen nicht gut an. Sie wissen, dass die Position der Regierung sehr schwach ist und dass es unhaltbar ist, wenn die Regierung sagt, dass Lohnerhöhungen Inflation verursachen. Jeder weiß, dass das absoluter Blödsinn ist. Das ist ein großer Fortschritt, denn in früheren Jahrzehnten sagten sogar einige Gewerkschaften, dass Lohnerhöhungen die Inflation verursachen oder verschlimmern (…)

Unterschätzt die Regierung die Streikenden?

Ja. Es gibt einige Gewerkschaften, die jetzt streiken, die früher Klauseln in ihren Satzungen hatten, die besagten, dass sie niemals streiken würden. Das Royal College of Nurses zum Beispiel, in dem über 400.000 Krankenschwestern organisiert sind, hat gestreikt. Früher haben sie sich gegen Streiks gewendet (...) Es gab Hunderte und Aberhunderte von Schikanen gegen lokale Gewerkschaftsfunktionäre, und viele wurden entlassen. Aber auch das funktioniert nicht. Die Gewerkschaft lehnt jegliche Einigung ab, solange ihre entlassenen Mitglieder nicht wieder arbeiten und die Schikanen nicht aufhören (…)

Die Labour Party versucht, den verlorenen Einfluss auf die Arbeiterklasse zurückzugewinnen. Wie denken die Arbeiter darüber?

Als Jeremy Corbyn in der Labour Party war, gab es viele Menschen, vielleicht eine halbe Million, die Mitglied bei Labour waren. Hunderttausende von ihnen haben jetzt die Partei verlassen. Im Vergleich zu den 35 Millionen Arbeitnehmern ist die Labour Party eine sehr kleine Partei. Sie spielt im Arbeitskampf keine Rolle. Die Führung von Labour hat versucht, Mitglieder des Parlaments zu disziplinieren, wenn sie an den Streikposten mit den Arbeitern teilnehmen (…)

Die Streikenden (…) haben so viel Sympathie, weil sie auch ein positives und optimistisches Signal des Kampfes gegen die zunehmend krisenhafte gesellschaftliche Entwicklung des britischen Imperialismus setzen. Welche Bedeutung haben dabei die Kapitalismuskritik und die Perspektive des Sozialismus?

Die Perspektiven der verschiedenen Gewerkschaften sind unterschiedlich. Und es gibt einige, wie die Eisenbahner und die Kommunikationsarbeiter, die klar gesagt haben, dass wir einen großen Systemwandel brauchen (…) Sie sagen, nur durch kollektives Handeln kann man einen Wandel erreichen, um einer neuen Generation die Bedeutung des gemeinsamen Kampfes zu vermitteln (…) Aber sie haben auch Organisationen in der breiteren Gemeinschaft gegründet und entwickelt, um zu sagen, dass es jetzt genug ist. Damit meinen sie, dass die Privatisierung, das Chaos der kapitalistischen Produktion, die Vorherrschaft der Finanzhäuser, die Vorherrschaft der multinationalen Unternehmen, die absichtliche Schaffung von Armut und die Unterfinanzierung der öffentlichen Dienste usw. inakzeptabel sind. Sie haben eine umfassende politische Vision, die von vielen anderen Gewerkschaften geteilt wird. Einige teilen sie weniger. Dennoch sind sie, wie auch die Krankenschwesterngewerkschaft, bereit, Dinge zu tun, die noch nie zuvor getan wurden, um nicht nur eine bessere Bezahlung in den Krankenhäusern zu erreichen, sondern auch (…) der Tatsache zu begegnen, dass wir nicht genügend Ärzte und Krankenschwestern haben, um einen ausreichend guten Gesundheitsdienst zu bieten (…) In jedem Industriezweig kämpfen die streikenden Arbeiter auch für die Verbesserung der Dienstleistung oder des Industriezweigs, in dem sie arbeiten (…)

Welche Rolle spielt die allgemeine krisenhafte Entwicklung des Imperialismus mit der akuten Gefahr eines dritten Weltkrieges und der Abwälzung der Kriegs- und Krisenlasten auf die Massen?

(…) Die Arbeiter haben unterschiedliche Bewusstseinsstufen und die Erfolge der britischen Arbeiterklasse in den Gewerkschaften waren historisch sehr wichtig für die Welt.  Wir sollten also auf keinen Fall die einfachen Fragen der Entlohnung und der Verbesserung der Dienstleistungen von den allgemeinen politischen Fragen trennen (…) Die lokalen und weltweiten Probleme sind miteinander verknüpft. Das Bewusstsein der Menschen für diese Zusammenhänge ist jedoch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt. Der Einfluss, den gute Arbeiter in jedem Land auf die Welt haben, wenn sie sehr gut organisiert und sehr diszipliniert im Namen ihrer Klasse handeln, ist immer gut. Was wir hier tun und was ihr in Deutschland tut, sollte eine wichtige Inspiration für Arbeiter in anderen Teilen der Welt sein und sollte nicht nur auf den wirtschaftlichen Kampf reduziert werden. Er sollte nicht von dem umfassenderen Kampf gegen die Macht in ihrer kapitalistischen und imperialistischen Form getrennt werden (…)

(…) Als marxistisch-leninistische Partei sind wir natürlich auch daran interessiert, wie die revolutionäre Arbeiterpartei aufgebaut wird. Welche Erfahrungen, Bemühungen oder Diskussionen gibt es dazu?

In einer Situation wie dieser verschärft sich der Kampf der Ideen (…) Wir haben in unserer Geschichte schon viele Kämpfe um höhere Löhne erlebt. Der Nutzen dieser Kämpfe war eine neue Phase der Einheit und des Denkens der beteiligten Arbeiter. Generell hat sich in der gesamten Arbeiterbewegung ein bedeutendes neues Denken herausgebildet (…) Wenn man nicht für den Lohn kämpfen kann, wird man nicht in der Lage sein, sich tiefer über den Kapitalismus auseinanderzusetzen. Es ist ein so grundlegender Kampf, weil er den Unterschied zwischen den Interessen der Kapitalisten und unseren in den Vordergrund rückt. Das ist eine positive Sache, (…) wirkliche Veränderungen gehen von unserer Klasse aus (…)

Welche Botschaft oder Erwartungen hast du an die Arbeiterklasse in Deutschland?

Ich persönlich bin der Meinung, dass die beste Form der internationalen Solidarität immer die war, selbst den Kampf aufzunehmen. Bei großen Kämpfen hier, wie dem Bergarbeiterkampf in den achtziger Jahren, musste man Geld und Lebensmittel von der Gewerkschaftsbewegung in der ganzen Welt für die Unterstützung des Streiks bekommen. Aber das Beste, was man tun kann, ist, den gleichen Kampf dort zu führen, wo man ist. Der Kampf für Lohn, für die Würde der Arbeit, gegen die Privatisierung, gegen die unverschämte Profitmacherei der großen Unternehmen und gegen die Verbindungen zwischen diesen Unternehmen und den Kriegs- und Waffenproduzenten in der ganzen Welt. Nehmt den Kampf dort auf, wo ihr seid!

 

In der ungekürzten Version des Interviews geht Doug Nicholls u.a. auch auf die Inflation, aktuelle Abstimmungsergebnisse für die nächsten Streiks, die weiteren Schritte und Ziele usw. ein.

 

Ungekürzte Version des Interviews