Leserbrief an "Hart aber fair"
Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen - nicht mehr praktikabel?
"Rote Fahne News" dokumentiert einen Leserbrief von Lisa Gärtner an das Team der Fernsehsendung "Hart aber fair".
Liebes Team von "hart aber fair", guten Tag Herr Klamroth,
auf der Mediathek habe ich die Folge "Über eine Million Menschen suchen Zuflucht: Deutschland an der Belastungsgrenze?" gesehen. Ich war entsetzt. Louis Klamroth ist der Generationswechsel in der Sendung, aber ich sage ehrlich: Wenn er so anfängt, braucht er gar nicht erst weiterzumachen. Die jüngere Generation des Journalismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sollte progressiver werden statt reaktionärer.
Jens Spahn verkündete ernsthaft, die Genfer Flüchtlingskonvention sei "nicht länger praktikabel". So, als würde er sagen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar? Leider nicht mehr praktikabel!" Die Modeströmung des Pragmatismus macht's möglich, dass ein Herr Spahn aus rein deutsch-national-imperialen Motiven heraus entscheiden kann, was "praktikabel" ist und was nicht.
Herr Spahn sprach desweiteren davon, dass Flüchtlinge an den Außengrenzen Europas aufgehalten werden müssen, gar nicht erst Europa zu betreten. Er will "für einige Wochen" alle im Mittelmeer aufgelesenen Flüchtlinge in nordafrikanische Länder zurückbringen. Das wäre u.a. Libyen. Mein Verlobter war in einem Lager in Libyen, in denen Spahn ihn und Tausende andere wohl gerne sehen will, um sie von der weiteren Flucht abzuhalten. Er und seine Mit-Inhaftierten mussten sich dort bei Widerspruch zu den Wärtern zur Strafe auf den Boden legen, wurden mit Wasserschläuchen bespritzt, um anschließend mit Stromschlägen auf der Wasserlache die ganze Nacht gefoltert zu werden. Den Alltag verbrachten sie mit zig Leuten dicht gedrängt in einem Raum, auf dem Boden schlafend, die Toilette in einem Eimer in der Ecke. Nur einmal in der Woche durften sie zum Freitagsgebet diesen furchtbaren Raum verlassen. Flöhe zerfraßen die Gliedmaßen der Insassen. Das Sterben gehörte zum Alltag. Als sie sich zur Wehr setzten, wurden Dutzende erschossen.
Herr Klamroth, ist Ihnen eigentlich bewusst, über was Sie da diskutieren? Was für Positionen Sie einen Raum geben? Für was hier eine Stimmung geschaffen wird, nach dem Motto: "Man wird jawohl noch sagen dürfen.."? Nein, so etwas darf man nicht sagen! Man darf in einem demokratischen Medium keine menschenverachtenden Konzentrationslager fordern. Und wenn es einer tut, so ist es die Aufgabe des Moderators, einzuschreiten. Offenbar war Herr Klamroth auch sehr einseitig vorbereitet, wenn er
nicht einmal wusste, was Pushbacks sind.
Isabel Schayani sagte richtig, dass in der Sendung Positionen von Victor Orban vertreten wurden. Herr Spahn widersprach, es seien die Positionen der EU und von Kanzler Scholz. Das Schlimme ist: Beides stimmt.
Unwidersprochen wurden "Kontingente" für Flüchtlinge gefordert. Wären Sie dann auch dafür, Kontingente für deutsche Waffenlieferungen, für Kapitalexport von ausbeuterischen Produktionsstätten, von die eigenständige Landwirtschaft zerstörenden Warenexporten festzulegen? Ganz sicher nicht. Niemals ließen sich deutsche Konzerne darauf ein.
Darf ich daran erinnern, wie Deutschland mit CO2-Zertifikaten handelt, um bei den "Kontingenten" für den die Umwelt zerstörenden CO2-Ausstoß zu tricksen und betrügen? All das schafft aber Fluchtursachen, überall auf der Welt. Freie Fahrt für's Kapital - tödliche Schutzwälle für Menschen. Das ist die Flüchtlingspolitik der heutigen Weltordnung.
Herr Klamroth, Sie sollten sich darüber klar werden, dass Worten Taten folgen. Auch eine Talkshow hat Verantwortung für das Gedankengut, das sie verbreitet. Den Karrieresprung haben Sie geschafft - aber ich kann nur hoffen, dass das nicht alles ist, was Ihnen wichtig ist.
Eine Frage habe ich: Wie setzt sich Ihr Publikum zusammen?
Mit freundlichen Grüßen
Lisa Gärtner