Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft

Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft

Quantenphysik am Betriebstor

14-tägig verkaufen wir am Großbetrieb bei uns im Stadtteil die Rote Fahne. Doch dieses Mal stand die Farbe Blau statt Rot im Mittelpunkt: „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft! Neues Buch!“ So stellten wir wie die Marktschreier das neue Buch von Stefan Engel unter den Arbeitern vor. Wir ergänzten: „Physik, Biologie, Ingenieurswesen oder Medizin – sie leisten heute nicht das, was die Menschheit braucht!“

Von lg
Quantenphysik am Betriebstor

Zügig auf dem Weg zur Arbeit oder müde auf dem Weg nach Hause gingen eine Reihe von Arbeitern nur mit kurzem Gruß, Kommentar oder auch Desinteresse vorbei. Doch ergaben sich auch eine Reihe kurzer und längerer Diskussionen.

 

„Das stimmt!“ sagt der eine. Besonders bei der Medizin können ein paar Kollegen sofort nachvollziehen, dass da oft nicht ganzheitlich herangegangen wird.

 

Der andere entgegnet uns: „Nee, die Quantenphysik macht ihren Job schon ganz gut!“ Ich: „Die ist hier drin auch behandelt“. Er bleibt stehen: „Zeig!“ Während er anfängt, mir die Quantenphysik zu erklären, suche ich die entsprechende Stelle im Buch. Damit ich suchen kann, übernimmt er meine Roten Fahnen und die Spendendose, was seine Kollegen verdutzt zur Kenntnis nehmen. Seite 28, da geht‘s los! Er blättert interessiert und stößt auf den fettierten Begriff der „Kopenhagener Deutung“. Darauf zeigend gibt er mir das Buch entschieden zurück: „Damit brauchst du mir nicht zu kommen! Du weißt schon, dass die Kopenhagener Deutung durch verschiedene Experimente längst widerlegt ist?!“ Ich muss lachen und zeige ihm die Kritik im Buch an der idealistischen Deutung der Quantenphysik durch die Kopenhagener Deutung. Das interessiert ihn wieder und er freut sich, über sein offenkundiges naturwissenschaftliches Know-how diskutieren zu können. „Aber kaufen brauche ich das Buch nicht, im Internet gibt es zehntausende Seiten über die Quantenphysik.“ Ich entgegne, dass er im Internet aber nirgends eine fundierte Kritik vom Standpunkt der Arbeiterklasse an der bürgerlichen Physik von heute finden wird und erzähle ihm, dass das Buch in Zusammenarbeit mit verschiedenen Wissenschaftlern unter Leitung von Stefan Engel entstanden ist. „Mmh, das ist schon interessant. Nur 17 € ist es mir nicht wert. Aber ich würde gerne mal bei einem Kaffee weiter über die Sache diskutieren!“ Ich lade ihn zum Sauerkraut beim politischen Aschermittwoch ein, na, vielleicht – nur fest zusagen will er noch nicht. Ich staune: Mit einer Diskussion über Quantenphysik hatte ich zum Schichtwechsel nicht gerechnet!

 

Ein junger jugoslawischer Arbeiter von einem Subunternehmen nimmt das Buch ebenfalls gleich zur Hand und ich stelle ihm das Inhaltsverzeichnis vor. „Oh, ah, interessant, achso!“ Jedes Kapitel scheint ihn mehr zu interessieren als das davor. „Wann seid ihr das nächste Mal da? Bei 17 € muss ich erst mein Mädchen zu Hause fragen - aber ich sage schon mal fest zu, das Buch zu kaufen! Wir sehen uns in 14 Tagen.“

 

Eine Gruppe von älteren Arbeitern, mit denen sonst schwer ins Gespräch zu kommen ist, entgegnet lachend: „Tja, einen Psychologen bräuchten wir hier alle mal!“ Einer nickt, dass viele Antworten der bürgerlichen Psychologie vorhandene Probleme nicht lösen können. „Naja, deshalb gehen wir stattdessen hier hin“ und zeigt leicht bitter auf die Fabrik hinter den Toren.

 

Eine junge Arbeiterin erzählt, dass sie sich früher immer sehr viel Biologie begeistert hat und nimmt interessiert den Flyer mit.

 

Nach 45 Minuten ziehen wir ab und ein positives Resümee über die erste Buchvorstellung an „unserem Tor“. Auf dem Hinweg kam noch die Meinung auf, wie man wohl für die Arbeiter „einen Bezug zum Thema“ herstellen kann, da sie sich spontan wohl von den Naturwissenschaften nicht angesprochen fühlen. Das erwies sich als glatte Fehleinschätzung.