Rede eines russisch-ukrainischen Studenten auf dem Ostermarsch in Siegen

Rede eines russisch-ukrainischen Studenten auf dem Ostermarsch in Siegen

Gemeinsam mit den Völkern dieser Welt wollen wir Frieden

Der folgende Beitrag eines Studenten mit russischen und ukrainischen Wurzeln wurde von ihm für das Bündnis "Stoppt den Krieg" auf dem Ostermarsch in Siegen gehalten. Der Beitrag macht deutlich, was der Krieg für das Leben der betroffenen Bevölkerung und der Soldaten bedeutet, und er richtet sich gegen alle beteiligten Imperialisten:

Von Korrespondenz

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Anwesende, Danke, dass Ihr hier seid. Und das sage ich nicht nur als Phrase der Begrüßung, sondern auch aus vollster Überzeugung. Ein Ostermarsch im Jahr 2023 ist für viele mittlerweile eine undenkbare Realität geworden, dabei ist sowohl der Anlass, an einem Osterwochenende gegen Krieg auf die Straße zu gehen, aber auch die konkrete Situation mit einer realen Eskalationsspirale im Ukrainekrieg, mehr als genug Motivation dafür, heute hier zu sein. Von mir persönlich also ehrliche Grüße an die Menschen, die sich noch als Bollwerk des Friedens verstehen.

 

Als Kind ukrainischer und russischer Eltern habe ich das nicht einfachе Schicksal, aber gleichzeitig die Option, an viele Infos aus erster Hand zu kommen und trage diese nun schon seit 411 Tagen seit Kriegsbeginn mit mir herum. Und das ist auch schon die erste Realität: Der Krieg in der Ukraine hat nicht wirklich 2022 angefangen, er ist durch Russlands offiziellen Angriff eben ein offizieller Krieg geworden. Seit 2014 haben sich Teile der Ostukraine mit der Unterstützung durch Russland in einem immer wieder aufflammenden Krieg mit der Westukraine befunden. Die Realität ist und war grausam. Kriegsverbrechen aus dieser Zeit werden immer wieder bekannt. Mit diesem, oder eher durch diesen, Konflikt habe ich mich mit der Geschichte meiner Familie beschäftigt: Wie die Familie meiner Mutter vertrieben wurde und unter Zwangsarbeit und Unterdrückung, ja auch Aufenthalten in Auschwitz entmenschlicht wurde, und wie die Familie meines Vaters Europa vom Faschismus befreite.

 

Doch ich möchte jetzt vor allem über die Realität aktuell sprechen, da ich es für unerlässlich halte, die Natur dieses Krieges zu verstehen.

 

In der Ukraine leben viele Menschen von der Hand in den Mund. Vor der Maidan-Revolution, die vor allem wegen sozialer Ungerechtigkeit vorangetrieben wurde, lag das Medianeinkommen, also das, was der Mensch in der Mitte bekommt, wenn man von Arm nach Reich eine Linie bildet, bei umgerechnet 120 Euro. Durch den Umsturz und die folgende Krise sowie den Krieg stürzte dies auf 80 Euro ab. Erst 2020 war es wieder etwa auf dem Niveau von 2014. (Zum Vergleich: Das Medianeinkommen in Deutschland liegt bei etwa 2000 Euro) Aktuell sieht es deutlich dramatischer aus: Viele haben ihre Arbeit verloren, fliehen aus ihren Städten und Dörfern Richtung Westen, entweder innerhalb der Ukraine oder nach Deutschland, Polen, die baltischen Staaten. Worüber die wenigsten sprechen: Viele von denen, die nicht fliehen können, leben als Untermieter in den Wohnungen derer, die fliehen konnten.

 

Es gibt wenig bis keine Hilfe für die Binnen-Geflüchteten, die Versorgung mit Essen ist immer wieder knapp, gerade Städte, die besetzt oder durch Belagerung aktiver Kriegsort sind, haben kaum bis wenig Chancen auf grundlegende Versorgung. Viele Städte gibt es auch nicht mehr: zum Beispiel Marinka, ein Vorort von Donezk existiert nicht mehr: Es gibt kein Haus, keine Straße, keinen Baum und auch kein Leben dort. Im Winter gingen die meisten Heizungen nicht. Wer dachte, unser Winter war scheiße, ich rede da aus erster Hand: Ich habe gefroren, weil ich arm bin, dem sage ich: In der Ukraine waren es teils -20°C in der Nacht.

 

Aus dem Leid der humanitären Katastrophe ziehen jedoch Präsident Selenskjy und seine Militärmaschinerie ihren Vorteil: Anwerben junger Menschen, die sowieso alles verloren haben. "Sicheres Einkommen, kostenlose medizinische Versorgung", so heißt es in den Aufrufen, sich freiwillig zu melden. Schön dass mein monatlicher Sold sicher ist, aber, wie rechnet der ukrainische Staat es eigentlich ab, wenn Rekruten, frisch an der Waffe und in Klamotten, die noch nicht "kalt" sind in nur vier Stunden "Dienst an der Waffe" zum Leichensack werden?

 

Ja. Es sind vier Stunden. Dann sind die neuen Rekruten, frisch in Bachmut angekommen, verheizt, bekommen, wenn überhaupt, ihr Begräbnis als "Helden" der Ukraine“. Ihr kennt doch nicht einmal die Namen der Männer und Jungen, die ihr dort verheizt!

 

Wenn wir über den vernichtenden, generationsfressenden Ersten Weltkrieg reden, hatten die Rekruten oft nur 14 Tage an der Front. Jetzt verschlingt die Schlacht im Schlamm junge Menschen in vier Stunden. Und für was? Die Frontlinie, um wenige Kilometer vor und dann zurück zu verschieben. Natürlich ist es so, dass viele junge Männer sich dieser Realität entziehen wollen: sie verstecken sich und versuchen zu fliehen. Doch seit der Mobilmachung sind die Grenzen für Männer dicht. Immer wieder präsentiert der ukrainische Grenzschutz, stolz wie ein Jäger, der Wild erlegt hat, die jungen und hoffnungslosen Männer. Teils sind es Jungen, die in Autos und LKWs geschmuggelt werden, die im Wald zu Fuß unterwegs sind, die Flüsse per Boot oder teils auch aus Verzweiflung schwimmend durchqueren und sich so einem sicheren Tod zu entziehen versuchen. Was ist ihr Schicksal? Offensichtlich: Desertieren ist seit 2015 in der Ukraine mit der sofortigen Erschießung des Fahnenflüchtigen zu bestrafen. Doch diese jungen Männer erwartet nicht der saubere Schuss, nein sie werden Kanonenfutter in diesem Krieg.

 

Mittlerweile bekomme ich immer wieder mit, wie die Männer, die noch in den Städten leben, sich anonym und online darüber absprechen, wo die Militärs stehen, die sie einziehen wollen.

 

An belebten Straßenecken, vor Wohnblocks: Sie stehen dort mit dem Ziel, dich von der Straße in den Krieg zu treiben. Die, die nicht wollen, werden geprügelt. Windelweich, für Vaterland und Präsident. Für einen "Helden"-Tod in vier Stunden. An anderer Stelle hat Selenskjy die Gunst der Stunde genutzt: So hat er Reformen zum Einschränken der „Arbeitnehmer“-Rechte, die noch zuvor durch Streiks und Demos der Gewerkschaften unterbunden wurden, einfach durchgesetzt. Außerdem, hat er Parteien verboten, den Rundfunk komplett unter sein Diktat gestellt, Gewerkschaften enteignet und ihre Rechte beschnitten. Keine dieser Maßnahmen hat eine Relevanz oder Bedeutung in diesem Krieg, wieso sie also mit dieser Willkür durchsetzen?

 

Doch auch die Perspektive in Russland ist brutal und kaum zu ertragen. Ich habe viele Genossinnen, Genossen, Freundinnen und Freunde dort, ja auch Familie: Der Kontakt ist schwer, Hilfe kann ich oft nicht bieten. Geld darf ich nicht mehr senden. Pakete und Post kommen nicht durch. Ein Visum erlaubt die deutsche Botschaft nicht: Der erhöhte Migrationsdruck seit Kriegsbeginn spricht für ein Absetzen in der EU. Ein privates Visum benötigt ein Einkommen von mehreren Tausend Euro, das ich nicht habe.

 

Antikriegsproteste werden schwer verurteilt: Oppositionskräfte, die sich organisieren, werden kriminalisiert: Sascha (Name geändert) rief per Instagram zu Protesten auf: Der Screenshot der Story und seine Festnahme zwei Stunden vor Beginn am Treffpunkt waren die einzigen Beweise, die der russische Staat hatte. Innerhalb von 24 Stunden erging dann das Urteil: Zwei Wochen Knast.

 

Ein anderer Fall: Der alleinerziehende Vater einer Tochter und Lehrer bekam zwei Jahre Arbeitslager: Seine Tochter malte ein Bild für Frieden in der Ukraine im Kunstunterricht. Aktuell ist er flüchtig.

 

Noch ein Fall: Mascha (Name geändert) meldete sich 48 Stunden nicht, ich befürchtete das Schlimmste. Sie wurde festgenommen und zu 30.000 Rubel Strafe verurteilt. Ich konnte ihr nie das Geld zukommen lassen, dass sie so bitter benötigt.

 

Die Verhöre sind Brutal: Gewalt, Beleidigungen, Bedrohung, auch von sexuellen Übergriffen wurde berichtet.

 

Doch auch der Kriegsalltag ist grausam und ohne Nachsicht: Die kleinen Städte und Dörfer haben einen deutlich höheren Anteil der aktiven Soldaten als die großen Städte in Russland. Wurde der Soll für Soldaten in großen Gemeinden nicht erfüllt, so wurden vor allem in entlegenen Dörfern und besonders von ethnischen Minderheiten die Jüngsten unter der Angabe “Militärübung” eingesackt. Wieso? Ganz einfach: Das Schreien und Flehen einer Mutter, die Sohn und Mann verloren hat, ist im Dorf nicht so laut zu hören, wie in der Stadt. Auch russische Himmelfahrtskommandos wurden bewusst ausgesucht: Waisenkinder, Arbeitslose, Dörfler: Sorgt für wenig Aufsehen und für den Dienst zu sterben, sind sie gut genug.

 

Mit einem Sold von etwa 3000 Euro werden gerade Menschen der unteren Schichten dazu gedrängt, Leben und Gewissen in diesem Krieg zu opfern: Russland macht offensiv Werbung zur besten Sendezeit. Wie leicht man an Geld kommt: Geh zur Armee! Was jedoch nicht gesagt wird, ist die Kompensation an deine Familie für deinen Tod: Eine Witwe erhält beispielsweise einen Sack Pelmeni als Kompensation für den Tod ihres Gatten.

 

Die wirtschaftliche Situation ist seit langem schlecht: Insbesondere Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, sind oft von der aktuellen Lage betroffen.

 

Rentenzahlungen lassen oft auf sich warten. Sie sind die ersten, die ausfallen.

 

Während vor allem hier in Deutschland, aber generell in westlichen Medien ein rassistisches Weltbild auf russische Menschen angewendet wird, sind genau diese Slogans, Beleidigungen und Reaktionen Wasser auf die Mühlen der Propagandamaschinerie des Kreml. ... Ich habe nicht selten das Gefühl: Es reden keine Diplomaten miteinander, es sind keine Journalisten dabei über die Geschehnisse zu berichten, sondern die Akteure sind trotzige kleine Kinder, die ihren Stolz ernster nehmen als das Schicksal der Menschen, die sie dazu verdammen, in diesem Krieg zu sterben.

 

Ich bin es leid, die immer gleichen Kamellen in neuer Verpackung zu lesen: Dieser Krieg hat immer wieder gezeigt, dass viele nicht wissen, was Faschismus bedeutet oder welche Bedeutung dieser Begriff hat. Weder Putin noch Selenskjy sind Hitler. Bandera ist kein Nationalheld, sondern ein Massenmörder und Faschist, „Slava Ukraini“ ist ein Ausruf ukrainischer Faschisten. Weder das Azow-Bataillon noch die Wagner-Gruppe sollten als militärische Einheiten angesehen werden: Beides sind aggressive, menschenfeindliche Schlägertrupps mit faschistischer Gesinnung. Der Krieg ist kein antifaschistischer Krieg, weil sich nicht Faschismus und Antifaschismus gegenüberstehen. Dieser Krieg ist vor allem ein Krieg des Imperialismus, weil sich Kapitalinteressen und Kapitalinteressen gegenüberstehen. Dieser Krieg verschont keinen einzigen Menschen, der davon betroffen ist.

 

Und was ist die Konsequenz? Mehr Waffen? Stärkere Waffen? Oder doch direkt eigene Truppen schicken? Die Antwort ist doch offensichtlich: Der oberste Militärstratege der USA ist überzeugt: Diesen Krieg kann die Ukraine nicht gewinnen. Doch weiterhin zwingen die Imprialisten die Ukrainerinnen und Ukrainer zum Ausharren und dazu, für ihre Interessen einzustehen - um jeden Preis und egal wie lange.

 

Es war von Anfang an klar, dass dieser Krieg nicht gewonnen werden kann: Auf der anderen Seite steht eine Atommacht. Statt die Verhandlungen in der Türkei letztes Jahr ernst zu nehmen, und diese waren weit fortgeschritten, haben die USA und Großbritannien sowie die EU vor einem Friedensschluss gewarnt und so nicht nur indirekt, sondern offen und vor unser aller Augen, diesen Krieg in die Länge gezogen! Alles was gerade noch in der Ukraine versucht wird, ist eine möglichst “angenehme Verhandlungsbasis” zu haben!

 

Schluss damit! Der Krieg muss enden! Weder das ukrainische noch das russische Volk haben es verdient, für eine solche unmenschliche Idee den Kopf hinzuhalten! Weder Selenskjy, noch Putin, weder Scholz noch Biden. Keiner dieser Männer wird den Krieg beenden, weil Menschen sterben. Sie werden den Krieg beenden, wenn es ihnen genehm ist, weil sie nicht für die Menschen im Amt sind, sondern für die Konzerne und Banken, die Profit aus diesem Krieg schlagen.

Unsere Losung heißt deshalb:

Gemeinsam mit den Völkern dieser Welt wollen wir Frieden - Gegen alle Kriegstreiber dieser Welt!