Interview mit Süleyman Gürcan, Ko-Vorsitzender der ATIK¹ und Stahlarbeiter aus Duisburg

Interview mit Süleyman Gürcan, Ko-Vorsitzender der ATIK¹ und Stahlarbeiter aus Duisburg

Nach der Erdbebenkatastrophe: "Viele Menschen haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren"

Die Rote Fahne Redaktion sprach mit Süleyman Gürcan, dem Ko-Vorsitzenden der Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei in Europa (ATIK). Zur Präsidentschaftswahl in der Türkei ruft die MLPD unter der Losung "Keine Stimme für Erdogan" auf. Sie ruft dazu auf, aktiv den Parlaments-Wahlkampf der Grünen Linken Partei (Yeşil Sol Parti, YSP) zu unterstützen, auch in Deutschland. Wichtig ist auch, sich aktiv an Protesten gegen Auftritte faschistischer türkischer Politiker in Deutschland zu beteiligen, egal welcher Nationalität man ist.

Nach der Erdbebenkatastrophe: "Viele Menschen haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren"
Süleyman Gürcan (rf-foto)

Rote Fahne: Was weißt du über die Ausmaße an Opfern und Schäden im Erdbebengebiet?


Süleyman Gürcan: Der türkische Staat berichtet von etwa 50.000 Toten, aber unabhängige Nachrichten, die Helfer, die dort sind, und auch die Forscher sagen, dass es viel mehr sind: mindestens zwischen 100.000 und 150.000 Tote. Es gibt sehr viele Menschen, die unter Trümmern begraben sind, und es ist nicht klar, wie viele Menschen da noch liegen. Diese ganzen Trümmer werden einfach mit Baggern und Staplern weggefahren. Man erfährt nur von ihnen, wenn man Menschenteile sieht, die – das muss ich so sagen – wie Müll an die Seite geworfen werden.

 

Betroffen sind auch sehr viele Migranten – Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan, die in der Türkei seit Jahren leben – über deren Verbleib es überhaupt keine Informationen gibt. Zum Beispiel in Antakya: dort gibt es einen Stadtteil, in dem in ganzen Häusern nur Flüchtlinge aus Syrien lebten. Ungefähr 2500 Menschen, von denen nur einer gerettet wurde. Alle anderen sind unter den Trümmern gestorben. Diese Zahlen sind nur ungefähre Zahlen, also keiner weiß, wie viele es wirklich sind. Auch gibt es sehr viele Verwundete und sehr viele Menschen haben ihre Dörfer und ihre Städte verlassen. Berichte sagen, rund 3 Millionen Menschen müssten ihre Wohngebiete verlassen und woanders hin, also in andere Städte gehen. Ob die jemals wieder zurückgehen, weiß man nicht. Aber, wir – als Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei in Europa - hoffen, dass die Menschen wieder zurück in ihre Wohngebiete gehen, denn seit Jahren versucht der türkische Staat, besonders die Erdoğan-Regierung, die Menschen dort umzusiedeln und stattdessen Erdoğan-Anhänger anzusiedeln. In den Städten im Erdbebengebiet leben Kurden und Türken, aber auch Araber – viele Aleviten und Christen – seit langem friedlich zusammen. Das hat die türkischen Nationalisten immer schon gestört, weswegen sie mit ihrer Umsiedlungspolitik nach Westen eine demographische Veränderung in ihrem Sinn anstreben. So wollen sie das Gebiet mehr unter Kontrolle haben.

 

Wir meinen, auch deswegen sind erst nach dem vierten Tag Helfer und Truppen von der Regierung dorthin geschickt worden. In den ersten vier Tagen waren die nicht da. Es gab nur freiwillige Helfer aus anderen Städten, oft revolutionäre und fortschrittliche Kräfte, aber keine Helfer des Staats. Die freiwilligen Helfer mussten mit Pickhämmern unter schwersten Bedingungen ihre Leute, ihre Verwandten, unter Trümmern herausholen.

 

Es kamen auch Katastrophenhelfer, zum Beispiel aus Korea oder Spanien, von überall her; erst danach trafen auch Helfer der Regierung ein. Der türkische Rote Halbmond² hat, statt Zelte oder Lebensmitteln unentgeltlich an die Opfer zu verteilen, diese noch an andere Helfergruppen verkauft, um Geld damit zu machen. Das waren Gruppen, die teilweise von Künstlerinnen und Künstlern oder auch Parteien aufgebaut wurden, oder einzelne Leute, die dort hingingen. Natürlich brauchen die Zelte, Lebensmittel, alles. Der Rote Halbmond hat das zum Teil zum dreifachem Preis an sie verkauft. Die Menschen mussten das kaufen, weil sie den Erdbebenopfern helfen wollten: Die waren oft krank, verwundet, und es war auch sehr kalt, nachts bis zu -10 oder -15 Grad Celsius. Der türkische Staat hatte 1999 – damals gab es auch ein Erdbeben in verschiedenen türkischen Städten – einen Solidaritätsfonds gegründet, in den alle Menschen einzahlen. Von 1999 bis Ende des letzten Jahres war das eine Summe von ungefähr 48 Milliarden Euro. Aber dieser ganze Fonds ist leer, den gibt es nicht mehr. Die Regierung hat sich alles angeeignet.


Rote Fahne: Eine solche Naturkatastrophe kann man zwar nicht verhindern. Aber es gibt Beispiele dafür, dass in Städten, in denen tatsächlich erdbebensicher gebaut wurde, bei weitem nicht so große Schäden entstanden. Was weißt du darüber?


Süleyman Gürcan: Natürlich, das war auch schlimm, aber: In der Nähe von Antakya gibt es eine Gemeinde, in der es einen fortschrittlichen Bürgermeister gibt. Der hat beim Bau höherer Gebäude nicht zugestimmt, sondern sie immer abgelehnt. Auch sein Vater und seine Geschwister wollten höher bauen, und er sagte: „Nein“. In dieser Gemeinde ist beim Erdbeben kein einziges Haus zerstört worden, es sind gar keine Menschen gestorben.

 

Jetzt sagen sie: „Oooh, hätten wir das nur alle so gemacht!“. Aber seit Jahren genehmigte der türkische Staat immer höhere Gebäude und den Bau mit billigem Material, billigem Sand, billigem Stahl oder zu wenig Stahl. Zu hohe Gebäude wurden trotzdem genehmigt, denn die Behörden haben immer Schwarzgeld dafür genommen. Ein Beispiel: In Adana haben sie ein 16-stöckiges Haus gebaut – das ganze Haus ist eingestürzt und viele Menschen sind umgekommen. Das war überall so, wo Gebäude standen, die nicht genehmigt hätten werden dürfen. Aber die ganzen Baufirmen, die meist eng mit Erdoğan verbunden sind, haben sie gebaut. Die von der staatlichen Baufirma TOKI gebauten Wohnhäuser sind alle kaputt, alle. Obwohl es eine Naturkatastrophe war, war das nicht notwendig, wenn man auf dem vorhandenen Wissen über erdbebensichere Bauweise aufgebaut hätte.


Rote Fahne: Während die Regierung bei der Katastrophenhilfe versagt hat, sie sogar richtig desorganisiert hat, gab es hervorragende Solidarität und Hilfe aus der Bevölkerung - gerade auch von linken, revolutionären Organisationen. Was kann man dazu sagen?


Süleyman Gürcan: Ja, viele linke, fortschrittliche und revolutionäre Kräfte waren schon am ersten Tag nach dem Erdbeben dort. Sie sind mit Tausenden Menschen dort hingegangen, um den Opfern zu helfen. Und sie haben am nächsten Tag sofort Koordinierungsgruppen gebildet, fast in allen Städten. Und dann sind auch Gewerkschaften dorthin gegangen, oder die Ärztekammer, die Ärztegewerkschaft – fast alle waren da und haben gemeinsam koordiniert und gemeinsam versucht, Menschen zu helfen. Überall in der Türkei haben sie Lebensmittel oder Kleidung gesammelt oder Zelte gekauft und hingeschickt. Kleine Geschäfte, die Zelte herstellen, haben sofort viele Zelte billig produziert - rein zu den Materialkosten - damit den Menschen geholfen werden kann. Alle Schichten der Bevölkerung - unter Führung linker und revolutionärer, kommunistischer Kräfte - haben diese Hilfe an die betroffenen Menschen geleistet. Viele sind immer noch da. Die ganze Hilfe vor Ort wird weiter von linken Kräften koordiniert und organisiert. Auch aus Europa kommen Helfer.

 

Dort wird in Schichten gearbeitet. Zum Beispiel wird wöchentlich gewechselt. Es wird auch gemeinschaftlich gekocht und Essen verteilt. Es gibt viele Ärztinnen und Ärzte, die noch da sind, auch um zu versuchen, den Kindern zu helfen. Spielzeuge werden dahin gebracht, oder es werden viele Dinge mit Kindern gemacht, damit es ihnen psychisch wieder besser geht. Natürlich gibt es auch hygienische Probleme. Es gibt keine Duschen, keine Toiletten und solche Dinge. Das sorgt zur Zeit für sehr große Probleme und die Leute versuchen selbst, sich irgendwie eine Toilette oder Duschen zu bauen. Manchmal müssen sie in kaputte Häuser gehen, um zu duschen oder die Toilette zu benutzen, weil es das draußen einfach nicht gibt. Es gibt jetzt Zelte, aber oft muss eine ganze Familie zusammen in einem Zelt leben. Das bringt auch Schwierigkeiten mit sich. Das ist besonders für die Frauen und die Kinder sehr schwer. Vor allem die staatliche Hilfe wird schon wieder weniger – und jetzt kommen die Wahlen.

 

Die revolutionären Kräfte versuchen, jetzt nochmal Druck und Öffentlichkeit zu schaffen, um weiter Hilfe zu schicken. Auch wir, als ATIK, haben das europaweit organisiert. Am ersten Tag haben wir morgens früh um 6 Uhr gehört, dass es das Erdbeben gegeben hat. Am Mittag hatten wir ein Konto eingerichtet, einen Fonds für Erdbebenopfer im Erdbebengebiet gebildet, Geld gesammelt und Unterstützungsaktionen gemacht. Bekanntlich gibt es nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien Opfer - an der Grenze zur Türkei. Es ist dort noch schlimmer, weil man gar keine Hilfe und Material dorthin schicken konnte. Auf der einen Seite hat der türkische Staat die Grenze zugemacht, auf der anderen der syrische Staat. Wir haben gesagt, von dem was wir sammeln, werden wir 30 Prozent nach Rojava in Syrien schicken und 70 Prozent in die Türkei und in die türkisch-kurdische Region. Dazu haben wir auch in das syrische Rojava Kontakte aufgebaut, was uns gelungen ist.


Rote Fahne: Wie entwickelt sich die Stimmung gegenüber der Erdoğan-Regierung - im Erdbebengebiet selbst, aber auch insgesamt im Land?


Süleyman Gürcan: Viele Menschen, auch bisherige Erdoğan- oder MHP-Anhänger, haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren. Die Stimmung wendet sich immer mehr gegen die AKP / MHP-Regierung. Auch in den Medien wird teilweise aus der Erdbebenregion berichtet: „Die Erdoğan-Regierung ist unter den Trümmern geblieben.“.

 

Die Stimmung im Land hat sich auch zuvor schon immer stärker gegen die Regierung entwickelt, aber mit dem Erdbeben wird das noch deutlicher. Als die Menschen von Dingen wie den Zeltverkäufen des Roten Halbmonds und dem Verkauf von Fertiggerichten gehört haben, hat das für große Empörung gesorgt. Doch kein Minister, keiner der Verantwortlichen ist zurückgetreten. Sie sagen: „Nein, wir haben alles richtig gemacht!“. Ein Verantwortlicher sagte, beim Erdbeben 1930 haben wir diese Dinge auch verkauft. Viele von denen sind jetzt bei den bevorstehenden Wahlen Kandidaten. Deswegen ist die Wut gegen diese Leute groß.


Rote Fahne: Was schätzt ihr, wie sich die Regierung und Erdoğan darauf einstellen? Die werden ja nicht einfach inkauf nehmen, dass sie riesige Stimmenverluste einstecken.


Süleyman Gürcan: Die werden zum einen versuchen, Stimmen zu klauen – das machen sie immer, das ist Gang und Gäbe bei den Wahlen in der Türkei. Sie werden die Wahl manipulieren, oder verhindern, dass die Menschen wählen gehen. So wie zum Beispiel in Brasilien, wo verhindert wurde, dass die Menschen zur Wahl gehen können. Auch wenn die Erdoğan-Regierung verliert, wird sie das nicht akzeptieren, sondern sie wird versuchen - so wie es in Brasilien und in den USA gelaufen ist - ihre Anhänger auf die Straße zu bringen. Das stellt eine Gefahr dar! Erdoğan hat seine faschistischen Anhänger. Die faschistische MHP, die Grauen Wölfe, die mit Erdoğan regieren, haben viele Waffen an ihre Anhänger verteilt. Schon 2016, als es den Putschversuch gegeben hat, wurden viele staatliche Waffen an Zivilpersonen verteilt und viele Faschisten haben jetzt Waffen.


Rote Fahne: Welche Rolle spielt die Diskussion über die sozialistische Perspektive?


Süleyman Gürcan: Da spielen derzeit die Wahlen eine wichtige Rolle. Da gibt es einmal Erdoğan mit seinem Nationalen Bündnis. Dann wird das Bündnis unter Führung der sozialdemokratischen CHP, Millet İttifakı (Bündnis der Nation), antreten. Die revolutionären und fortschrittlichen Kräfte arbeiten jetzt im Bündnis Emek ve Özgürlük İttifakı (Allianz für Arbeit und Freiheit) zusammen und treten ebenfalls zu den Wahlen an. Alle Schichten fortschrittlicher Kräfte, die kurdische Gemeinschaft, die Armenier, die Aleviten, andere Glaubensrichtungen – alle, die in der Türkei vom türkischen Regime unterdrückt werden, haben ihre Vertreter in diesem Bündnis. Es machen auch sehr viele Gewerkschafter oder auch Künstlerinnen und Künstler in diesem Bündnis mit. Gleichzeitig sind fast alle revolutionären Kräfte, von fortschrittlichen bis zu kommunistischen Kräften vertreten. Sie haben eine sehr gute Bündnisarbeit geleistet, obwohl sie sehr verschiedene Meinungen haben. Vertreten sind auch Frauenverbände, LGBTQ-Kräfte, Studentinnen und Studenten, Jugendliche. Die starke Frauenbeteiligung spiegelt die in den letzten Jahren in der Türkei deutlich gewachsene Frauenbewegung wider, die sehr große Kundgebungen und Aktionen organisiert.

 

Natürlich arbeiten auch die Kommunisten und radikale revolutionäre Kräfte in diesem Bündnis aktiv und führend mit. Für sie ist die Wahlbeteiligung eine Taktik, um die Menschen für die Revolution zu gewinnen - für den Sozialismus und den Kommunismus. Fast alle radikalen Kräfte arbeiten mit diesem Ziel, auch Kommunistinnen und Kommunisten aus der Türkei. Die echte Befreiung ist nur mit der Revolution, mit dem Sozialismus mit dem Kommunismus möglich. Das propagieren wir, und das kommt auch sehr gut an bei den Menschen.

 

Auch in anderen europäischen Ländern sind türkische Staatsbürger zur Wahl aufgerufen. Die Erdoğan-Regierung hat die Gesetze entsprechend geändert. Seit mehreren Jahren dürfen auch die Menschen, die einen türkischen Pass oder die doppelte Staatsbürgerschaft haben, außerhalb der Türkei wählen. Bei den letzten Wahlen gab es hier ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen AKP und HDP. Die HDP ist eine pro-kurdische und pro-revolutionäre Partei. Beide haben die meisten Stimmen bekommen, auch damals immer mit Bündnissen. Jetzt machen auch ATIK und andere fortschrittliche Kräfte mit. Wir versuchen, im Ausland für die Wahl Menschen zu organisieren, auch mit einem Aufruf. Die Wahlen sind dafür eine wichtige Möglichkeit, denn die Menschen sind in dieser Zeit hochpolitisch und diskutieren viel. So nützen wir das auch europaweit, um die Menschen für die Revolution und den Sozialismus / Kommunismus zu gewinnen.

 

Im türkischen Staat finden die Parlamentswahl und die Präsidentenwahl gleichzeitig statt. Fast alle revolutionären Kräfte sagen: Beteiligung an der Parlamentswahl ja. Aber bei der Präsidentenwahl rufen sie dazu auf, nicht zu wählen. Zumal es zwischen Erdoğan und Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP auch keine grundlegenden Unterschiede gibt. Außerdem haben linke, fortschrittliche Kräfte keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt.


Rote Fahne: Vielen Dank für das Interview!