Wichtiges Kampffeld
„Gesetzliche Unfallversicherung“ – Herausforderung an die Arbeiter- und die Umweltbewegung
Auf der Offenen Akademie im März 2024 hielt Professor Dr. Johannes Ludwig, Berlin, einen sehr bedeutenden Vortrag zum Thema »Die gesetzliche Unfallversicherung – ein heimliches Kartell zwischen Wissenschaft - Regierung und Versicherungskonzernen«.
In der Zwischenzeit publizierte Professor Ludwig in der umweltmedizinischen Fachzeitschrift „Umwelt-Medizin-Gesellschaft“ unter dem Titel »Die Gesetzliche Unfallversicherung in Deutschland: Ein System „institutionalisierter Korruption“?« (Heft 2/2024). Ein neues wichtiges Kampffeld wird hier erkennbar: für die Arbeiter- und die Umweltbewegung und die kritische Wissenschaft!
Der konkrete Anlass – vergiftete Bergleute
Jahrelang setzte die Ruhrkohle AG (RAG) die Bergleute im Steinkohlenbergbau giftigen PCB-haltigen Hydraulikölen und Flammschutzmitteln aus, obwohl diese bereits Anfang der 1980er-Jahre international zum „dreckigen Dutzend“ der 12 schädlichsten Chemikalien gezählt wurden. 1,6 Millionen Tonnen Giftmüll wurden ohne Aufklärung der Bergleute für den Profit der RAG unter Tage eingelagert. Inzwischen ist die Flutung der stillgelegten Zechen in vollem Gang, ungefiltert wird giftiges Grubenwasser in öffentliche Gewässer eingelagert oder dringt in Grundwasserleiter ein. Viele Bergleute wurden schwer krank bzw. verstarben früh, viele an Krebs. Eine von der RAG in Auftrag gegebene Untersuchung von Bergleuten auf PCB wurde 2019 vom damaligen RAG-Chef Peter Schrimpf und dem Studienleiter Professor Thomas Kraus (Universität Aachen) mit den Worten vorgestellt, dass viele Bergleute zwar auffällige PCB-Blutwerte hatten, aber „keine akute Gefahr“ bestehe. Eine Großstudie wurde angekündigt und nie gemacht. Deswegen untersuchte eine Ärzteinitiative zusammen mit Kumpel für AUF im Zeitraum 2021-2022 insgesamt 124 Bergleute auf PCBs (Polychlorierte Biphenyle) und Schwermetalle und konnte den Zusammenhang zwischen erhöhten Laborwerten und zahlreichen Erkrankungen belegen. Aufgedeckt wurden bei dieser Studie auch zu hoch angesetzte Grenzwerte.
Einige kranke Bergleute begaben sich auf den steinigen Weg, die Anerkennung ihrer Berufserkrankung bei der zuständigen Berufsgenossenschaft Rohstoffe und Chemische Industrie (BG RCI) einzufordern. Bisher wurden alle Anträge abgeschmettert oder nicht entschieden. Bereits beim ersten Fall, der vor dem Sozialgericht landete, war schnell erkennbar, dass Gutachter entweder mit der RAG und den Berufsgenossenschaften verbunden waren oder sich nicht an dieses heiße Eisen herantrauten.
Das Schattenreich der Berufsgenossenschaften
Für 2,17 € im Monat pro Beschäftigtem übernimmt das System der Berufsgenossenschaften das Risiko für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten für alle Unternehmen in Deutschland. Der Dachverband „Gesetzliche Unfallversicherung“ (GUV) ist ein Monopol und vereinigt in sich die Kostenträgerschaft, die „Definitionshoheit“, was überhaupt als Berufserkrankung anerkannt wird und was nicht, ferner die „Ermittlungskompetenz“ und schliesslich die abschliessende Bewertung, ob eine »haftungserfüllende Kausalität« vorliegt und der Antragssteller anerkannt wird – oder eben nicht! Man macht sich seine Spielregeln selbst, das Hauptmotiv ist, die Schadenssummen gering zu halten, Unternehmen, die ihre Beschäftigten krank gemacht haben, sind aus dem Schneider und nicht mehr direkt haftbar.
In Deutschland werden 25 % der Antragsteller anerkannt, 75 % abgelehnt, das sind etwa 60.000 Antragssteller im Jahr. In der Schweiz ist es genau umgekehrt, dort ist die Unfallversicherung auch nicht den beitragszahlenden Unternehmen untergeordnet, sondern eine unabhängige Anstalt. In Deutschland ist die GUV also fest in der Hand der Konzerne und ein bewegendes Beispiel, wie menschenverachtend staatsmonopolistischer Kapitalismus ist. Vor den deutschen Sozialgerichten, die sich pedantisch an die von GUV selbst erstellten Vorgaben halten, werden 90 % der Kläger abgewiesen. Die dreiste Begründung der Regierung dafür ist die behauptete »hohe Qualität der Gutachter«. Die Qualität der Gutachter besteht vor allem darin, dass es ein gut eingespieltes Netzwerk der selben bürgerlichen Wissenschafler und Arbeitsmediziner ist, die selbst in staatlichen Kommissionen Grenzwerte und „plausible Zusammenhänge“ festlegen und diese dann so auch in ihre Gerichtsgutachten einbringen. Sie werden gut bezahlt und bekommen oft auch Aufträge von der GUV und teils auch direkt von Konzernen. Betroffen sind natürlich nicht nur die Bergleute, sondern die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter, die beruflich Schadstoffen ausgesetzt sind.
Zur Frage der Willkür von Grenzwerten hier nur ein Beispiel: Für Asbest musste der ursprüngliche Grenzwert von 30 Millionen Fasern pro Kubikmeter auf 15.000 heruntergesetzt werden. Der ursprüngliche Wert war noch nie wissenschaftlich belegt, sondern eine bewusste Festsetzung im Interesse der Monopole.
Systematische Zermürbungstaktik
Die Schriftwechsel ziehen sich über Jahre hin, es erfolgt eine systematische Verzögerung, die Wartezeit für Sozialgerichtstermine ist lang, es geht durch mehrere Instanzen. Viele Betroffene sind schwerkrank, von dem endlosen Fragebogen- und Papierkram überfordert, geben resigniert auf oder sterben vor Abschluss des Verfahrens. In Deutschland gibt es nur 80 anerkannte Berufskrankheiten, in Wirklichkeit gibt es viel mehr. Was nicht in der BG-Liste drin steht, wird nicht anerkannt! Während international beispielsweise Immunkrankheiten, Krebs, Rheuma oder Hirnschädigungen als PCB-Folgen wissenschaftlich belegt sind, engt die GUV dies willkürlich auf Hauterkrankungen und Leberschäden ein. Viele Betroffene steigen sozial ab, Familien gehen kaputt.
Das Kartell der Gutachter und „Experten“
Professor Ludwig berichtete über die Aufdeckung von Manipulationen im wissenschaftlichen Merkblatt des Arbeits-und Sozialministeriums. Zahlreiche Strafanzeigen wegen Fälschungen wurden von der Staatsanwaltschaft aber eingestellt. Eindrucksvoll und hilfreich ist die Plattform „Ans Tageslicht“. Zum GUV-Kartell kommt man über die Webadresse https://www.anstageslicht.de/berufskrankheit-berufsgenossenschaft-gutachter/gesetzliche-unfallversicherung
Hier kann man auch den Artikel von Professor Ludwig in Umwelt-Medizin-Gesellschaft lesen. Anhand eindrucksvoller Grafiken werden die ganzen Querverbindungen nachgewiesen und dass sich immer wieder die gleichen Leute die Klinke in die Hand geben. Zu Professor Kraus wird hier aufgedeckt: „Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Direktor des Instituts für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin an der RWTH Aachen, der ebenfalls als Mitglied in diversen Gremien sitzt, finanziert seine vielen Forschungsprojekte zu rund 80 % aus Mitteln der Industrie und der DGUV (roter Pfeil). Man kann wohl von einer finanziellen Abhängigkeit sprechen.“
Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gibt es eine »ärztliche Sachverständigen-Kommission«. Außerdem eine MAK-Kommission (maximale Arbeitsplatzkonzentrationen, Festlegung der Grenzwerte). Alle diese Gremien werden von der GUV bestimmt. Die vier Topleute in diesen Kommissionen sind die Arbeitsmedizin-Professoren Brüning (Angestellter der GUV), Kraus, Drexler und Letzel, alle aus der sogenannten „Erlanger Schule“.
Arbeiter- und Umweltbewegung sind herausgefordert
Gewerkschaftsvertreter sitzen in den GUV-Ausschüssen und beziehen Sitzungsgelder. Die Entscheidungen werden »paritätisch« getroffen. Es werden im Minutentakt viele Fälle durch die Sitzungen gepeitscht, entschieden wird ohne große Nachfrage nach Vorlage der Verwaltung. Das müssen wir in den Gewerkschaften thematisieren. Weltanschaulich geht es um die Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Materialismus. Konkret auch um die Frage der Auseinandersetzung zwischen einfacher Kausalität und komplexen Zusammenhängen.