Interview mit Belqis Roshan

Interview mit Belqis Roshan

Mutige afghanische Parlamentarierin – „Es hätte auch sein können, dass sie mich erschießen“

Auf dem 13. Frauenpolitischen Ratschlag in Kassel im November 2024 ergab sich die Gelegenheit, mit der mutigen afghanischen Parlamentarierin Belqis Roshan ein Interview zu führen. Hier auf Rote Fahne News die ausführliche Version, auf die ein QR-Code im Rote-Fahne-Magazin hinweist.

Mutige afghanische Parlamentarierin – „Es hätte auch sein können, dass sie mich erschießen“

Belqis Roshan war bis 2021 Mitglied der „Loja Dschirga“. Die traditionelle „Großen Versammlung“ aller Stämme und Ethnien Afghanistans ist verfassungsgebendes Organ und wird zur Klärung großer nationaler und ethnischer Fragen abgehalten. Durch Belqis Roshans mutigen Einsatz für die Interessen der afghanischen Bevölkerung hat sich die Ex-Parlamentarierin großes Ansehen erworben und wurde berühmt. Die Rote Fahne sprach mit ihr anlässlich des 13. Frauenpolitischen Ratschlags in Kassel im November 2024 (hier Auszüge)

 

Mein Name ist Belqis Roshan. Ich wuchs in Afghanistan in einer sehr armen Familie im Krieg unter russischer Besatzung auf. Mein Vater war als Kämpfer sechs Jahre im Gefängnis. Ich erlebte viel Schlimmes auf der Flucht in den Iran, in Flüchtlingscamps in Pakistan und zurückgekehrt nach Afghanistan nach dem Ende der Besatzung im Bürgerkrieg. Daher setzte ich mir schon früh das Ziel, etwas für die Bevölkerung zu tun.

 

Ich hatte nie die Illusion, über die Parlamentsarbeit die Befreiung des afghanischen Volkes erreichen zu können. Als ich kandidierte gab es keine Demokratie, wie sie gegenüber der Bevölkerung suggeriert wurde und wie man es aus anderen Ländern kannte: „freies Parlament“ und „freie Meinungsäußerung“ Das war in Afghanistan anders, weil viele der Parlamentarier Fundamentalisten und Verbrecher waren. 2004 kandidierte ich in einem Bundesland, danach für den Senat, 2018 für das bundesweite Parlament. Mein Ziel war es, darin eine Gegenstimme für die Bevölkerung zu sein, auf seine Probleme und Wünsche aufmerksam machen. Ich wollte aus der Innensicht des Parlaments die Bevölkerung informieren. Das Volk muss wissen, was das Parlament beschließt.

 

RF: Was sind deine Erfahrungen
Belqis Roshan: Zunächst widerspreche ich der Vorstellung, alle Menschen in Afghanistan wären Terroristen und alle afghanischen Männer wären gegen die Frauen. Wenn man ihnen die Möglichkeit der Zusammenarbeit gibt, stellt sich heraus, dass afghanische Männer oftmals mehr Respekt gegenüber Frauen haben als manch andere Männer. „Wie schade, dass du eine Frau bist…“, sagten sie immer. Ich antwortete stets, dass ich sehr glücklich bin, eine Frau zu sein.

 

Zum zweiten möchte ich klarstellen, dass eine Regierung, die durch die Macht eines anderen Landes zustande kommt, keine wahre Regierung ist. Sie kann genauso schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden ist. Sie hat weder ihre Wurzeln im Land noch eine Unterstützung der Bevölkerung. 2001 wurde in Deutschland entschieden, Karsai (2001-2014 Präsident) als Präsident vorzubereiten und als Marionette nach Afghanistan zu schicken. Als das Verfallsdatum ihrer Marionetten 2021 ablief, brachten sie ihre zweite Variante einer Marionettenregierung: wieder eine fundamentalistische Taliban-Regierung, die der Bevölkerung die Luft zum Atmen nimmt. Auf jeden Fall waren sie Stimmen der reaktionären Regierungen. Wer dagegen die Wahrheit ansprach, bekam große Probleme.

 

RF: Du hast unter den Regierungen von Karsai (2001-2014) und Aschraf Ghani (2014-2021) mutig die Wahrheit aufgedeckt. Was passierte genau?
Belqis Roshan:
Ich trat bei drei großen bundesweiten Versammlungen auf, zu denen jeweils 5000 Menschen kamen. 2013 sollte ein Vertrag mit den USA über eine militärische Basis in Afghanistan abgeschlossen werden. Ich hatte noch wenig Erfahrung, weder Schild noch Mikrofon, saß in der letzten Reihe. Aber ich schrie immer wieder, dass ein solcher Vertrag ein Verbrechen gegenüber unserem Volk ist, die USA uns niemals schützen würden, es ihnen lediglich um Profit und um Macht geht. In der zweiten Versammlung sollten wir einen Vertrag unterzeichnen, der den USA die Hoheit über die Sicherheit des Landes zusprach. Wieder protestierte ich: Wenn das Parlament und die Soldaten von den USA bezahlt werden, kann das nicht zum Nutzen der afghanischen Bevölkerung sein, sondern dient allein dem Interesse der USA. Keiner rechnete damit, dass ich ein Plakat aus Stoff in meine Kleidung eingenäht am Sicherheitsdienst vorbeischmuggelte, das ich in Richtung Karsai zeigte: „Der Vertrag mit den Amerikanern ist ein Verbrechen an der Bevölkerung!“ Da die Sitzung live im Fernsehen übertragen wurde, bekamen die Menschen den Protest mit. Die Männer vom Sicherheitsdienst prügelten uns aus dem Saal. Es war ein Vorteil, dass wir als gewählte Parlamentarier einen bestimmten Schutzstatus hatte. Ansonsten wäre ich sofort inhaftiert und gefoltert worden. So konnten wir den Status als Abgeordnete für die Belange unseres Volkes ausnutzen.

 

Wenn wir in den letzten 20 Jahren Kritik an den Amerikanern und ihren Verbrechen übten, wurden wir oft diskreditiert, wir wollten ja nur Aufmerksamkeit erheischen oder zu Berühmtheit gelangen, womöglich als Opposition ins Ausland zu gehen und dort Klagen zu führen. Doch nach und nach wurde begriffen, dass wir die Wahrheit sagten. Unser Ziel war, die Parlamentsarbeit dafür zu nutzen, der Bevölkerung die Wahrheit über die Politik zu sagen und zu verhindern, dass die Taliban eines Tages wieder an die Macht kommen würden.

 

Bei der dritten Versammlung schließlich, die unter Führung von Aschraf Ghani stattfand, (...) war ich bestens vorbereitet: mein Schild war von beiden Seiten beschriftet und ich war bereits um vier Uhr morgens dort, um einen Platz in der ersten Reihe zu bekommen. Es gelang ihnen wieder nicht, zu verhindern, dass ich das Schild hoch hielt: diesmal war es nicht nur für Aschraf Ghani zu lesen, sondern von der anderen Seite auch für die Medien.

 

Am Tag dieser Versammlung wunderten sich viele, was ich um vier Uhr morgens bereits dort im Schilde führte. Die Medien waren in einem Hotel neben dem Parlamentsgebäude untergebracht und durften dieses eigentlich nicht verlassen. Alles sollte zensiert werden. Doch auch die Medien waren neugierig und kamen heraus. Sie brachten damit auch zum Ausdruck, dass die gesamte Bevölkerung aufmerksam ist und davon ausgeht, dass es keine einstimmige Zustimmung zu dem Vertrag geben würde. Der Sicherheitsdienst stellte extra zwei Männer und eine Frau zu meiner Beobachtung ab, die mich die ganze Zeit umrundeten und beobachteten. Am Ende schlug die Frau aus Wut auf mich ein, weil sie meinen Auftritt nicht zu verhindern gewusst hatte. Unser Ziel war, unseren Protest mitten in der Rede von Aschraf Ghani zu zeigen. Hätten wir die Aktion zu früh gemacht, hatte man uns direkt rausgeworfen. Wir sind zu spät gemacht, hätte Aschraf Ghani sie nicht mitbekommen. Also haben wir ihn mittendrin unterbrochen!

 

Meine Freunde rieten mir vorher dazu, mir mehrere Lagen Kleidung anzuziehen. Denn es hätte sein können, dass die Sicherheitskräfte mich in ihrer Wut versucht hätten zu entkleiden. Es hätte auch sein können, dass sie mich erschießen und dies als ein Versehen darstellen. Ein solcher Kampf bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Ich war vorbereitet und auf alles eingestellt. Es war klar, dass meine Aktion „nicht mit Blumen gefeiert“ würde. Als ich in der Versammlung mein Schild raus holte, versuchte ein Mann neben mir, mich davon abzuhalten. Die Frau vom Sicherheitsdienst schubste mich von hinten. Aber sie hatten nicht einkalkuliert, dass die Medien das trotz Entfernung mitbekamen. Später versuchte der Sicherheitsdienst sich von der körperlichen Attacke der Frau auf mich zu distanzieren, dies sei gar nicht ihr Auftrag gewesen. Sie wurde aber weder verurteilt noch bestraft.

 

Der Sicherheitsvertrag mit den USA wurde damals unterzeichnet. Es wurden 5000 Taliban aus dem Gefängnis freigelassen. Darunter Terroristen, die als solche auf der Liste der UN geführt wurden. Wie wir vorhergesagt hatten, wurde das Parlament aufgelöst und die gewählten Abgeordneten abgelöst durch das neue Regime der Taliban.

 

Wir gingen ohne schlechtes Gewissen, weil wir getan haben, was wir konnten: wir haben die Bevölkerung informiert, sie gewarnt. Ich habe kein schlechtes Gewissen, dass ich ins Exil gegangen bin. Heute sagen viele, dass sie den Kampf aufnehmen, eine Organisation gründen, den militärischen Kampf führen wollen. Doch all diese Frauen und Männer, die heute im Exil leben und das sagen, waren in den besagten Versammlungen dabei und haben kein Wort gesagt. Heute klagen sie gegen Zustände in Afghanistan, halten Reden auf allen möglichen Versammlungen der EU oder der Amerikaner. Sie sind selbst zu deren Sprachrohr geworden und werden dafür mit Preisen oder sogar dem Nobelpreis geehrt.

 

Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Bevölkerung vor diesen neuen Marionetten zu warnen, die bereits auf Aufgaben in neuen Regierungsprojekten der USA für Afghanistan vorbereitet werden. Mit ihnen kann das afghanische Volk keine Zukunft gewinnen.

 

Nach der Machtübernahme durch die Taliban blieb ich noch eineinhalb Jahre in Afghanistan. Doch meine Anwesenheit wurde zu einem Sicherheitsproblem für meine Mitstreiter. In dieser Situation konnte ich meine Aufgabe als Stimme der Bevölkerung nicht ausfüllen. Wir mussten feststellen, dass eine Arbeit im Untergrund uns nicht die Möglichkeit gibt, unsere Stimme der Bevölkerung laut zu erheben. Weil wir sorge hatten, dass dies von der Bevölkerung als Schweigen missverstanden werden könnte, dass auch ich mich dem Regime der Taliban untergeordnet hätte, entschieden wir gemeinsam, dass ich ins Ausland gehen soll, um von dort aus die Stimme der Bevölkerung zu erheben, den Protest gegen die Taliban frontal zu führen. Ein zweiter Grund, die Arbeit im Ausland fortzusetzen, ist, nicht nur unserer Bevölkerung zu dienen. Es geht auch darum, der Bevölkerung in den westlichen Ländern und in Amerika aufzuzeigen, dass die USA nicht für die Befreiung des afghanischen Volkes handeln und die Steuergelder ihrer Bevölkerung missbrauchen. Wir wollen zeigen, dass es nicht am afghanischen Volk liegt, das angeblich nicht in der Lage sei, sein Land zu führen. Indem wir die Pläne der Regierungen der EU und der USA aufdecken, schaffen wir auch Bewusstsein über deren verbrecherische Politik unter ihrer eigenen Bevölkerung.

 

Dabei hoffen wir auf eure Unterstützung, dies bekanntzumachen. So kann ich auch bei einer künftigen Rückkehr nach Afghanistan unserer Bevölkerung zeigen, dass mein Aufenthalt im Ausland keineswegs einer Pause unseres Kampfes diente, sondern ganz im Sinne unseres Volkes genutzt wurde. Wir wollen die Verbrechen der Regierungen der Öffentlichkeit der Welt vor Augen führen.

 

RF: Das unterstützen wir! Vielen Dank für das Interview. Du bist wirklich eine mutige Frau, die Geschichte geschrieben hat.