Wer 2010 gut gemeistert hat, ist für 2011 bestens gerüstet!
Rote Fahne: Beginnen wir mit einem kleinen Rückblick.
Stefan
Engel: 2010 war ein kompliziertes, aber auch für uns erfolgreiches
Jahr! Seit September verdichtete sich diese Entwicklung zu
fünf internationalistischen Höhepunkten.
Ende September traf sich die
Initiatorinnenkonferenz zur Weltfrauenkonferenz
erstmals mit Vertreterinnen aus vier Erdteilen. Danach folgte der 9.
Frauenpolitische Ratschlag mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern
aus 33 Ländern. Hier wurde erprobt, wie die Weltfrauenkonferenz in
Venezuela ablaufen könnte. Anfang Oktober tagte die Gründungskonferenz
der ICOR. Unter diesen Eindrücken war die darauf folgende 10.
Internationale Konferenz marxistisch-leninistischer Parteien
und Organisationen ein sehr erfolgreiches Treffen mit tiefgehenden
Diskussionen und einem Riesenschritt vorwärts, insbesondere bei der
Vereinheitlichung in der Umweltfrage. Am 16. Oktober fand die 7.
zentrale Demonstration der vereinigten Montagsdemonstrationen
mit 7.000 Teilnehmern in Berlin statt. Am Nachmittag folgte dann
ebenfalls in Berlin ein begeisterndes internationales Kulturfest
mit 2.300 Besuchern, das von fast 40 Organisationen aus den
verschiedensten Ländern getragen wurde. An all diesen Ereignissen hat
die MLPD aktiv teilgenommen und konnte entsprechend zum Erfolg
beitragen.
Rote Fahne: Du sagtest "ein kompliziertes Jahr". Bezieht sich das auf die politische Entwicklung angesichts der Weltwirtschafts- und Finanzkrise?
Stefan
Engel: Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008, aber auch
schon das Krisenmanagement seit der Merkel/Steinmeier-Regierung 2005,
hat eine ganze Reihe neuer Herrschaftsmethoden und -manöver
hervorgebracht, die von den Massen nicht so einfach zu durchschauen
sind. Das hat den Spielraum unserer revolutionären Kleinarbeit eingeengt
und war für unsere Genossen eine hohe ideologisch-politische und auch
moralische Herausforderung. Im Großen und Ganzen hat sich die MLPD in
einer der kompliziertesten Situationen seit der Wiedervereinigung
hervorragend geschlagen. Zugleich zeigen die Herrschenden ihre
permanente Unfähigkeit, ihre Probleme zu lösen. Schon fast lächerlich
ist die Propaganda des Wirtschaftsministers Brüderle vom "Aufschwung
XXL", der Hoffnungen in die Wirtschaftsentwicklung wecken soll. Aber die
Weltwirtschafts- und Finanzkrise ist noch keineswegs ausgestanden, auch
wenn es in Deutschland eine relative Belebung und in einigen
BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) sogar tatsächlich
einen wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Jahr gegeben hat. Insgesamt
hat die Weltwirtschaft im zweiten Quartal 2010 jedoch gerade mal den
Höchststand der wirtschaftlichen Entwicklung von 2005 erreicht und lag
um 7,7 Prozent unter dem des ersten Quartals 2008. Die Weltwirtschaft
befindet sich insgesamt in einer Stagnation mit sehr
vielen Ungleichmäßigkeiten und Unsicherheiten, die vor allem auf den
Finanzbereich zurückwirken. Das internationale umfangreiche
Krisenmanagement in den Jahren 2008/2009, das schätzungsweise 27
Billionen US-Dollar weltweit verschlungen hat, hat genau das bewirkt,
was wir vorausgesagt haben: Es hat eine wachsende Zahl kapitalistischer
und imperialistischer Länder an den Rand eines Staatsbankrotts geführt.
Das alles kann zu heftigen finanzpolitischen und wirtschaftlichen
Erschütterungen führen, die die Stagnation wieder in einen
wirtschaftlichen Crash umwandeln können.
Es ist ein Widersinn, wenn
die Regierung von einem weltweiten Wirtschaftsaufschwung spricht und es
zugleich nach wie vor erhebliche staatliche krisenbremsende Maßnahmen
gibt. Ein großes Problem für die Herrschenden ist, dass das gemeinsame
internationale Krisenmanagement, das von den G20-Staaten im
November 2008 auf den Weg gebracht wurde, nur etwa ein Jahr lang
gehalten hat. Dann rückten wieder mehr und mehr die Gegensätze
und die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen und imperialistischen
Ländern in den Mittelpunkt. Heute kommt es auf internationalem Gebiet
kaum noch zu einer einvernehmlichen wirksamen Lösung. Jeder Kapitalist,
jedes Monopol sucht in erster Linie seinen Vorteil aus der
Krisenentwicklung zu ziehen und den Konkurrenten zu schädigen. Das kann
den Konkurrenten und gegebenenfalls die ganze Wirtschaftsentwicklung
wieder herunterziehen.
Von Entwarnung oder gar von einem weltweiten
Wirtschaftsaufschwung zu sprechen, ist im Moment reines Wunschdenken.
Rote Fahne: Was ist die konkrete Prognose über die weitere Entwicklung der Weltwirtschafts- und Finanzkrise?
Stefan Engel: Eine konkrete Prognose ist sehr schwer, weil sich durch die Neuorganisation der internationalen Produktion eine ganze Reihe neuer Erscheinungen, Wechselbeziehungen und Faktoren entwickelt haben, die so nicht konkret vorhersehbar waren und sind. Ich gehe aber nach wie vor davon aus, dass wir eine längere Phase der Stagnation erleben werden, in der es in verschiedenen Ländern zu Einbrüchen, in anderen vielleicht zu Belebungen oder sogar zu Aufschwungstendenzen kommen kann. Das alles geht aber mit einer latenten Gefahr eines erneuten tiefen Einbruchs der gesamten Weltwirtschaft einher. Insbesondere, wenn die krisenhemmenden Maßnahmen nicht mehr greifen und auch die staatlichen Möglichkeiten, krisendämpfend einzuwirken, relativ erschöpft sind.
Rote Fahne: Was ist in diesem Zusammenhang von der Euro-Krise zu halten?
Stefan Engel: Zu Beginn
der Euro-Krise wurde das kleine Griechenland, dessen Finanzvolumen nur
etwa vier Prozent am gesamten Euroraum ausmacht, noch als Sonderproblem
dargestellt, das eine schlechte Zahlungsmoral und über seine
Verhältnisse gelebt habe. Inzwischen wurde Irland erfasst und man
spricht von einer drohenden Insolvenz der Staatshaushalte von Portugal,
Spanien, Italien und Belgien. Es wird deutlich, dass das internationale
Krisenmanagement zwar zeitweilig krisendämpfend wirken konnte und
durchaus einen internationalen Finanzkollaps abgewendet hat, aber
zugleich die Handlungsfähigkeit der Staatshaushalte fast aller
imperialistischen Länder empfindlich einschränkte. Insbesondere die mehr
oder weniger verschuldeten Länder haben jetzt immense Probleme, ihre
Schulden wieder abzutragen. In einigen Ländern wie zum Beispiel in Japan
überschreitet die Staatsverschuldung inzwischen deutlich das jährliche
Bruttosozialprodukt.
Deshalb werden jetzt überall die Krisenlasten
auf die breiten Massen abgewälzt. Das wird zum Teil sehr unterschiedlich
begründet, ist aber der gemeinsame Kern der sogenannten
"Sparmaßnahmen", die eine Verschärfung der Klassenwidersprüche im
internationalen Maßstab nach sich ziehen. Das ist ein Spiel mit dem
Feuer, weil es die latente politische Krise verschärft, offene
politische Krisen auslöst und auch zu einer Belebung der Kämpfe der
Arbeiterklasse, des aktiven Volkswiderstands und der Rebellion der
Jugend geführt hat. Das geht insgesamt auch mit einer verstärkten
Kapitalismuskritik und Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative
einher.
Rote Fahne: Wenn man über die Grenzen nach Frankreich, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, aber inzwischen auch nach Großbritannien schaut, so hat man den Eindruck, dass es in Deutschland noch relativ ruhig zugeht.
Stefan
Engel: Der von uns festgestellte beginnende
Stimmungsumschwung in Europa zu Beginn der Eurokrise hat sich
inzwischen weiterentwickelt und zu einer regelrechten Belebung des
aktiven Volkswiderstands, der Rebellion der Jugend, aber auch der Kämpfe
der Arbeiterklasse geführt. Das Klassenbewusstsein entwickelt sich und
die Kämpfe nehmen an Härte zu. Das wird insbesondere an ihrem Hauptstoß
gegen die Regierungen deutlich, in ihrem Umfang, aber auch ihrer
inhaltlichen Identität. Wir erleben in verschiedenen europäischen
Ländern Generalstreiks und heftige Kämpfe der Jugend gegen den Abbau
ihrer Bildungsmöglichkeiten.
Wir erleben aber auch eine Belebung der
Verteidigung der natürlichen Umwelt, weil die Abwälzung der Krisenlasten
einhergeht mit der Einschränkung der erkämpften Maßnahmen zum Schutz
der natürlichen Umwelt, wie sie noch vor der Krise beschlossen waren,
obwohl selbst diese völlig unzureichend waren. Das alles führt
gegenwärtig zu einem neuen Schub in der Destabilisierung in den
imperialistischen Ländern.
Auch in Deutschland ist dieser
Stimmungsumschwung eine Tatsache, auch wenn er in Dimension und Härte
der daraus folgenden Kämpfe noch nicht mit Italien, Griechenland oder
Frankreich vergleichbar ist. Die Volkskämpfe in Deutschland haben sich
von durchschnittlich 122.000 Teilnehmern im Zeitraum von Januar bis
August sprunghaft erhöht auf 446.370 im September und 477.260 im
Oktober. BDI-Chef Keitel klagte auf die Frage, ob es nicht überhöht sei,
wenn er "den Widerstand gegen 'Stuttgart 21' als Symbol für den
Widerstand gegen jeden technischen Fortschritt" bezeichnet: "Wenn
es ein Einzelfall wäre, könnte man das so sehen. Aber massiver
Widerstand ist eher die Regel als die Ausnahme. Wir haben mittlerweile
überall in Deutschland Proteste und Widerstand, egal, um welches Projekt
es geht … Die Krise hat viel Vertrauen gerade in die Finanzwirtschaft
zerstört. Dieses latente Misstrauen durchzieht nun alle Bereiche der
Wirtschaft." ("Frankfurter Rundschau", 15. 10. 2010)
Auch unter
den Arbeitern entwickeln sich wichtige Kämpfe gegen die Abwälzung der
Krisenlasten, den Abbau von Arbeitsplätzen oder gegen die Nichtübernahme
der Lehrlinge nach der Ausbildung sowie gegen die Verlagerung von
Arbeitsplätzen ins Ausland. An den Herbstaktionen der Gewerkschaft gegen
die Regierungspolitik nahmen 163.000 Kolleginnen und Kollegen teil. Der
Unmut richtet sich insbesondere gegen Kernpunkte der
verschärften Ausbeutung: Versuche der weiteren Flexibilisierung
der Arbeitszeit, Ausdehnung der Regelarbeitszeit auf das Wochenende
usw. Der Auslösung und Führung von Arbeiterkämpfen stehen angesichts
immensen Ausbeutungsdrucks in den Betrieben, Maßregelungen, Mobbing und
uneingeschränkten Krisenabkommen der rechten Gewerkschaftsspitze
naturgemäß viel größere Hürden entgegen als einer Demonstration auf der
Straße. Dass in Deutschland die Arbeiterkämpfe noch nicht so entwickelt
sind wie in einigen anderen europäischen Ländern, hat auch etwas mit der
deutlichen wirtschaftlichen Belebung in Deutschland zu tun, die
aufgrund des hohen Exportanteils an der wirtschaftlichen Belebung
insbesondere der BRIC-Staaten teilhaben kann. Vor diesem Hintergrund
geht die Regierung nicht so radikal gegen die Interessen der breiten
Massen vor wie zum Beispiel in Italien, wo 20 Prozent der
Bildungsausgaben gestrichen wurden, oder in anderen Ländern, wo 15 oder
20 Prozent Lohn- und Gehaltskürzungen für Beschäftigte im öffentlichen
Dienst erfolgten. Aber auch in Deutschland wird sich diese Situation
noch ändern. Die Krisenentwicklung in anderen europäischen Ländern wird
unmittelbar den deutschen Bundeshaushalt belasten und somit auch den
Spielraum für krisendämpfende Maßnahmen einschränken und die
wirtschaftliche Situation in Deutschland kann sich schnell ändern, wenn
die Exportmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Rote Fahne: Die Manöver, aber auch die Angreifbarkeit der Regierung hat man deutlich am Bergbau gesehen, wo die EU erst einmal aus Angst vor Bergarbeiterkämpfen in Spanien und Deutschland zurückstecken musste.
Stefan Engel: Das stimmt. Im Sommer hat die EU-Kommission eine Entscheidung getroffen, mit Zechenstilllegungen bis 2014 den Steinkohlebergbau in Deutschland auslaufen zu lassen. Mit unserer Unterstützung wurde das unter den Bergleuten bekannt gemacht und für einen Kampf mobilisiert. Die IG BCE und auch die Bundesregierung konnten den Kampfwillen der Leute nur beruhigen, indem sie sich mächtig ins Zeug legten und den EU-Kommissionsbeschluss vom Juni wieder kippten. Jetzt wird die Kohle doch bis 2018 weiterproduziert. Allerdings hat die EU-Kommission durchgesetzt, dass jetzt der Kohlebergbau endgültig bis 2018 ausläuft und in dieser Zeit eine verschärfte Ausbeutung der Bergleute stattfinden soll. Es wird sich zeigen, ob der Plan von der reibungslosen Stilllegung der Kohlezechen von Deutschland aufgehen wird.
Rote Fahne: Was ist eigentlich davon zu halten, dass die Regierung immer wieder von der niedrigsten Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der Wiedervereinigung spricht?
Stefan Engel:
Hier wird viel Kraft und Ideenreichtum verwendet, um das wahre
Ausmaß der Arbeitslosigkeit zu vertuschen. Die Regierung verweist auf
41,09 Millionen Erwerbstätige bzw. 28,28 Millionen
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte – mehr als je zuvor. Doch um
welche Art von Beschäftigten handelt es sich wirklich? Von Januar bis
Juni stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um
250.000. Davon waren 120.000 Leiharbeitsplätze. Das heißt: Fast jeder
zweite neue Arbeitsplatz wurde von einem Leiharbeiter besetzt. Es gibt
inzwischen 900.000 Leiharbeiter, gut 100.000 mehr als vor der Krise. Die
Unternehmen nutzen zudem die mit Hilfe der früheren
SPD/Grünen-Regierung eingeführten Hartz-Gesetze, um Vollzeitstellen
durch Teilzeitstellen zu ersetzen.
Im Volumen stehen heute nur 48
Milliarden Arbeitsstunden 52 Milliarden Arbeitsstunden aus dem Jahr 1991
gegenüber. Das heißt, das Arbeitsvolumen ist eindeutig
geschrumpft und nicht etwa gestiegen, wie es die
Arbeitslosenzahlen vermuten lassen.
Neben verschiedensten
Statistik-Tricks darf man auch nicht übersehen, dass als Folge der Krise
der bürgerlichen Familienordnung die Geburtenrate drastisch
zurückgegangen ist und deshalb zwischen 2005 und 2010 800.000 ältere
Beschäftigte mehr aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, als jüngere
nachgerückt sind. Es kann durchaus dazu kommen, dass in den nächsten
Jahren aufgrund dieser Entwicklung sogar in bestimmten Bereichen ein
Arbeitskräfteengpass entsteht, zumal auch viele Monopole ihre Kosten für
die Berufsausbildung weiter verkürzt haben. Dies wiederum wird von den
Monopolen in der Industrie als willkommener Anlass genutzt, insbesondere
billige Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern anzuwerben, um das
allgemeine Lohnniveau weiter zu drücken.
Rote Fahne: Spielt die rechte Gewerkschaftsführung nicht auch eine bremsende Rolle bei der Entwicklung der Arbeiterkämpfe?
Stefan
Engel: Zweifellos. Im Unterschied zu anderen Ländern haben
insbesondere die Führung der IG Metall oder auch der IG Bergbau Chemie
und Energie penetrant an der Klassenzusammenarbeitspolitik mit der
Regierung festgehalten. Das hat man bei den Aktivitäten der
Gewerkschaften Anfang November deutlich gemerkt. In Nordrhein-Westfalen
hatte der DGB noch nicht einmal eine Massendemonstration vorgesehen.
Diese wurde dann eigenständig von kämpferischen Vertrauensleuten,
Betriebsräten und Gewerkschaftern in Dortmund durchgesetzt. Die
IG-Metall-Führung war bis zum Schluss nicht bereit, diese Demonstration
aktiv zu unterstützen und dafür zu mobilisieren. Trotzdem haben 5.000 an
dieser weitergehend selbstständig initiierten Demonstration
teilgenommen.
In diesem Zusammenhang spielt die "Dortmunder
Erklärung" eine wichtige Rolle. Inzwischen haben 10.000
Gewerkschafter, Arbeiter und Angestellte diese Plattform unterzeichnet
und ihre Kritik an der Klassenzusammenarbeitspolitik der
reformistischen Gewerkschaftsführung zum Ausdruck gebracht. Wir begrüßen
und unterstützen den Geist der "Dortmunder Erklärung", weil er ein
positiver Beitrag zur Mobilisierung der gewerkschaftlichen Basis ist und
auch enttäuschte Kollegen davon abhalten wird, falsche Schlüsse aus der
berechtigten Kritik an der Gewerkschaftsführung zu ziehen. Viele kehren
nämlich den Gewerkschaften den Rücken, weil sie nicht kämpfen und weil
sich die Arbeiter immer wieder übervorteilt fühlen.
Rote Fahne: Ist es Zufall, dass die Umweltfrage so im Zentrum des aktiven Volkswiderstands steht?
Stefan
Engel: Keineswegs! Der bereits eingeleitete Umschlag in
eine globale Umweltkatastrophe wird von einer wachsenden Masse
von Menschen zunehmend als existenzielle Bedrohung empfunden. Seit dem
24. April beteiligten sich in Deutschland allein 400.000 Menschen,
darunter viele Junge, an Protestaktionen gegen die Atompolitik. Der
Beschluss der Bundesregierung zur Laufzeitverlängerung der
Atomkraftwerke erfolgte gegen den ausdrücklichen Mehrheitswillen von 60
bis 70 Prozent der Bevölkerung. Wir sehen wichtige Ansätze einer neu
entstehenden Umweltbewegung, die eine wachsende
Politisierung und Systemkritik beinhaltet. Zugleich ist das
noch lange nicht die internationale Widerstandsfront,
die notwendig ist, um in dieser dramatischen Situation wirklich eine
Wende zu erzwingen. Auf der heutigen Stufe des Kapitalismus, der
Neuorganisation der internationalen Produktion, hat sich die
Zerstörung der Umwelt von einer Begleiterscheinung zu einer neuen
gesetzmäßigen Erscheinung des Imperialismus gewandelt. Das
heißt, dass heute die Zerstörung der Umwelt untrennbar mit der gesamten
kapitalistischen Produktions- und Verteilungsweise durchdrungen ist.
Dieses Problem kann nur gelöst werden, wenn der Imperialismus beseitigt
und durch den Sozialismus ersetzt wird. Das bedeutet, dass der aktive
Volkswiderstand zur Rettung der natürlichen Umwelt sich immer stärker
mit dem Klassenkampf der Arbeiterklasse und seinem
gesellschaftsverändernden Kampf für den Sozialismus durchdringen muss.
Ich sehe da international positive Entwicklungen. Besonders hervorheben
möchte ich den mutigen Auftritt der antiimperialistischen Regierung
Boliviens beim UN-Umweltgipfel in Cancún/Mexiko. Gegen das Betreiben des
imperialistischen Ökologismus hat sie entschiedene Maßnahmen zur
Rettung der natürlichen Umwelt auf Kosten der imperialistischen Länder
und der reichen Monopole gefordert und deshalb völlig zu Recht die
faule Schlussresolution trotz heftigen Drucks auf sie abgelehnt.
Der
imperialistische Ökologismus mit seiner heuchlerischen Losung der
"Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie" nutzt lediglich die
unbestreitbare Tatsache der fortschreitenden Umweltzerstörung, um daraus
ein Milliardengeschäft zu machen. Damit beanspruchen die Regierungen
der imperialistischen Länder zusammen mit ihren Monopolen sogar die
Federführung im Kampf gegen die Umweltzerstörung, die sie hauptsächlich
zu verantworten haben. Unter den Massen wirkt dieser imperialistische
Ökologismus in Form der kleinbürgerlich-ökologischen Denkweise.
Charakteristisch für sie ist die Auffassung, durch bloße Aufklärung,
durchdachte Alternativvorschläge und symbolische Aktionen könne die
Umwelt gerettet werden, ohne grundlegend etwas an den wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Verhältnissen verändern zu müssen. Das geht
vielfach einher mit einer gehörigen Portion Massenfeindlichkeit und
Antikommunismus. Es ist dringend erforderlich, einen umfassenden Kampf
um die Denkweise der Massen zu führen, damit die neu entstehende
Umweltbewegung tatsächlich zu einer scharfen Waffe wird und nicht wieder
Anhängsel und Wählerpotenzial der einen oder anderen bürgerlichen
Partei.
Rote Fahne: Woher kommt die Schwäche der internationalen Umweltbewegung?
Stefan
Engel: Eine Wurzel dieser Schwäche sind auch gravierende
Versäumnisse der internationalen marxistisch-leninistischen,
revolutionären und Arbeiterbewegung. Lange Zeit hat sie die Umweltfrage
als nebensächlich behandelt. Viele Organisationen haben sich dafür kaum
interessiert, sie als kleinbürgerliche Spinnerei abgetan und einseitig
nur die soziale Frage behandelt. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich
sowohl bei der Gründung der ICOR als auch bei der internationalen
Konferenz marxistisch-leninistischer Parteien eine selbstkritische und
zukunftsweisende Haltung zu dieser existenziellen Frage entwickelt hat.
Die ICOR hat für den 4. Dezember erstmals zu Aktivitäten für einen
internationalen Kampftag zur Rettung der Umwelt aufgerufen. Das war
sicherlich erst ein Beginn und lag auch noch zu kurz nach der
ICOR-Gründung, als dass es bereits zu einer durchschlagenden
internationalen Massenbewegung werden konnte. Es ist aber
offensichtlich, dass sich in der internationalen
marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung ein klarer Kurs
herausbildet und die Umweltfrage zur wichtigsten Frage neben der
sozialen Frage erklärt wird.
Auch in der MLPD gibt es eine
tendenzielle Unterschätzung der Umweltfrage, obwohl die MLPD sich seit
Jahren mehr oder weniger an der Umweltbewegung beteiligt.
Eine hohe
Anforderung an das Klassen- und Umweltbewusstsein ist die
Tatsache, dass die allseitige Zerstörung der Lebensgrundlage und
insbesondere die Klimakatastrophe nicht unmittelbar sicht- oder
spürbar wird. Der Temperaturanstieg der Atmosphäre als Wirkung
des Ausstoßes von CO2 tritt erst Jahrzehnte später ein. Der
imperialistische Ökologismus benutzt diese Tatsache, um wie beim
Klimagipfel von Cancún die Dramatik der Lage herunterzuspielen und
notwendige Maßnahmen wie die Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 70 bis 90
Prozent zu verhindern.
Das Problem in unserer Arbeit hängt auch mit
einer ökonomistischen Tendenz in der Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
zusammen, die einseitig die Lohn- und Arbeitsbedingungen behandelt und
die ganzen Fragen des Lebens tendenziell ausklammert. Wir werden das in
unserer Partei in der nächsten Zeit gründlich diskutieren und dringend
eine Wende einleiten. Bei allen zunehmenden Aktivitäten ist das, was am
4. Dezember von unserer Partei gemacht wurde, gemessen an der Dimension
des Problems nicht zufriedenstellend.
Rote Fahne: Man hat den Eindruck, dass die Bundesregierung gerade versucht, ihren Afghanistaneinsatz in ein besseres Licht zu stellen.
Stefan
Engel: Das ist offensichtlich und wohl auch nötig. Nach wie
vor lehnen zwei Drittel der Bevölkerung den Auslandseinsatz der
Bundeswehr in Afghanistan ab. Kein Mensch glaubt der Regierung mehr,
dass es sich dort nicht um eine aktive Beteiligung der Bundeswehr am
Krieg handelt. Entsprechend haben nun auch Guttenberg und Merkel offen
von einer Beteiligung am "Krieg" gesprochen. Mit verschiedenen
medieninszenierten Besuchen und der Äußerung von Merkel, dass die
Bundeswehr in Afghanistan auch die Sicherheit der Bevölkerung in
Deutschland schütze, soll versucht werden, einen Stimmungsumschwung in
ihrem Sinn zu schaffen. Zugleich wird die Bundeswehr zu einer
Berufsarmee umgerüstet. Eine Wehrpflichtigenarmee ist nicht geeignet, um
imperialistische Interventionskriege zu führen. Merkel hat bei ihrem
letzten Afghanistan-Besuch auch deutlich gemacht, dass der die ganze
Zeit zur Beruhigung der Bevölkerung versprochene Abzug der Truppen aus
Afghanistan natürlich nur erfolgen könne, wenn das die Situation
erlaube. Damit wird bereits darauf hingearbeitet, den Afghanistan-Krieg
durch die Bundeswehr weiterzuführen bzw. sogar noch auszudehnen.
Es
bleibt eine wichtige Aufgabe in unserer Kleinarbeit, gegen diese
imperialistische Kriegspolitik zu mobilisieren und die Leute über den
wahren imperialistischen Charakter des Krieges aufzuklären. Immerhin
lagern in Afghanistan umfangreiche Rohstoff- und Energievorkommen, die
für die imperialistische Wirtschaft in Zukunft von immer größerer
Bedeutung werden.
Rote Fahne: Man hat trotz deutlicher wirtschaftlicher Belebung und zahlenmäßigem Rückgang der Arbeitslosigkeit nicht den Eindruck einer stabilen Regierung.
Stefan Engel: Im Gegenteil haben sich in diesem Jahr eine ganze Reihe namhafter Fahnenträger der Bundesregierung wie Koch, Rüttgers oder Ole von Beust aus dem Staub gemacht. Das Erscheinungsbild der Regierung ist zerrüttet, die FDP nach ihrem Höhenflug auf dem Tiefpunkt der Meinungsumfragen seit Jahrzehnten. Aber auch die SPD kann kaum aus diesem schlechten Regierungsansehen Nutzen ziehen. Sie dümpelt etwa beim Stand der Bundestagswahlen herum. Nutznießer dieser Situation sind vor allem die Grünen, die ihr Erscheinungsbild deutlich nach links verändert haben, um den Linkstrend auf ihre Mühlen zu leiten. Dagegen hinterlässt die Linkspartei in weiten Teilen ein eher jämmerliches Bild. Sie ist in Umfragen deutlich davon entfernt, ihr Ergebnis bei den Wahlen zu halten und die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Die Ausweitung des Loslösungsprozesses der Massen von den bürgerlichen Parteien, vom bürgerlichen Parlamentarismus und seinen Institutionen zeigt auch, wie tief die Unzufriedenheit unter den Massen ist und wie wenig Zugang die Herrschenden auf das Denken, Fühlen und Handeln der Massen haben. Umso wichtiger ist es, ungeachtet aller Schwierigkeiten die revolutionäre Richtung im Linkstrend mit der klaren Perspektive des Sozialismus zu stärken. Das geht nur, wenn die Marxisten-Leninisten in allen Höhen und Tiefen der komplizierten Entwicklung selbst eine klare Orientierung haben und diese den Massen geduldig und überzeugend vermitteln. Diese Herausforderung hat die MLPD 2010 gut gemeistert. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass MLPD und REBELL 2010 erfolgreich die Kritik-Selbstkritik-Kampagne zur Jugendarbeit durchgeführt haben. REBELL und Rotfüchse haben deutlich an anziehendem Profil gewonnen!
Rote Fahne: Umso größere Bedeutung messen die Herrschenden der destruktiven Methode des Antikommunismus bei, um die Massen von einer sozialistischen Alternative abzuhalten.
Stefan
Engel: Die allgemeine Krisenhaftigkeit des
imperialistischen Weltsystems kann die Massen immer weniger für
den kapitalistischen Weg gewinnen. Die wachsende Unzufriedenheit bringt
für die Herrschenden die Gefahr mit sich, dass sich die Kämpfe der
Arbeiter zum Klassenkampf im eigentlichen Sinn entwickeln und es zu
einer Revolutionierung der Arbeiterbewegung kommt. Dem wird durch den
Antikommunismus verschiedenster Prägung von den Herrschenden
systematisch begegnet. So hat die Innenministerkonferenz im Herbst 2010
in Hamburg Konzepte gegen den sogenannten "gewaltorientierten
Linksextremismus" beraten und eine europaweite "Gefährderdatei Links"
geplant.
Dieses repressive Vorgehen wird flankiert von
Geheimdienstzuträgern wie Professor Eckhard Jesse aus Chemnitz. Er
tingelt derzeit durch die Lande mit der These, die MLPD sei zum "harten
Extremismus" in Deutschland zu rechnen, um offenbar auch ein schärferes
Vorgehen gegen uns in der Öffentlichkeit vorzubereiten. Das Problem
eines verstärkten Vorgehens gegen die MLPD in der Öffentlichkeit
verträgt sich allerdings nicht mit der jahrzehntelangen Politik der
politischen Isolierung, des Heraushaltens der MLPD aus den Medien und
der Öffentlichkeit, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Offensichtlich
gehen die Herrschenden davon aus, dass diese Politik der politischen
Isolierung irgendwann nicht mehr den notwendigen Erfolg zur
Unterdrückung und Diskriminierung der MLPD hat. Das scheint der
perspektivische Gehalt solcher Aktivitäten wie von Professor Jesse oder
des Verfassungsschutzes zu sein. Auf jeden Fall müssen wir unsere
revolutionäre Wachsamkeit gegen verstärkte Angriffe durch den
Staatsapparat, gegen verschiedene Provokationen und auch den
Antikommunismus schärfen. Auffällig ist, dass sich gegenwärtig in der Faschisierung
des Staatsapparats einiges tut. Die geplante Zusammenlegung
des BKA mit der Bundespolizei bedeutet einen weiteren Schritt der
Überwindung der Trennung von geheimdienstlicher Tätigkeit und
Polizeitätigkeit und ist insbesondere mit dem Kampf gegen den Inneren
Feind, die sogenannte Gefahr des "Terrorismus", begründet. Die
Arbeiterklasse muss sich im Klaren darüber sein, dass diese
Faschisierung des Staatsapparats in erster Linie Präventivmaßnahmen zur
Niederhaltung einer revolutionären Höherentwicklung des Klassenkampfs
darstellen. Ein Anschauungsbeispiel war bereits die aggressive
staatliche Unterdrückung des selbstständigen Fluglotsenstreiks in
Spanien vorletzte Woche. Die sozialdemokratische spanische Regierung
hat sofort den Notstand erklärt, die Arbeit der Fluglotsen unter
Militärhoheit gestellt und den Streik brutal unterdrückt. Das zeigt, wie
wenig Interesse die Herrschenden am Fortbestehen der
bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten haben, wenn ihre
Interessen ernsthaft gefährdet sind oder gar Gefahr für die Fortexistenz
des kapitalistischen Gesellschaftssystems in Vollzug ist.
Rote Fahne: In diesem Zusammenhang steht sicherlich auch das verstärkte Aufkommen von sogenannten "rechtspopulistischen" Parteien in imperialistischen Ländern.
Stefan Engel: Ich
möchte als erstes etwas zu diesem Begriff des "Rechtspopulismus" sagen.
Dieser Begriff legt fälschlicherweise nahe, dass diese reaktionäre
Politik aus den Massen kommt und bestimmte Parteien diese reaktionäre
Gesinnung der Massen bedienen, um Wählerstimmen zu bekommen. In
Wirklichkeit ist es umgekehrt. Diese faschistoiden, extrem reaktionären
Parteien und Bewegungen greifen zum Teil geschickt den Unmut unter den
Massen zum Beispiel gegen die Massenarbeitslosigkeit oder gegen den
Abbau der sozialen Rechte auf, um zugleich Vorbehalte gegen Migranten,
andere Kulturen, andere Religionen und natürlich die Kommunisten und die
"Terroristen" zu schüren. Diese Parteien sind im Unterschied zu den
offen faschistischen und neofaschistischen Kräften äußerst geschickt und
bekommen in den Massenmedien auch entsprechend Platz zur Verbreitung
ihrer reaktionären Ideen. Das geht soweit, dass manche Strömungen
regelrechtes Produkt der Massenmedien sind, wie die Organisation des
Niederländers Wilders, der offensichtlich ein reines Medienprodukt ist
und noch nicht einmal eine richtige Partei hat.
Diese Entwicklung hat
in Europa bereits dazu geführt, dass solche Kräfte an einigen
Regierungen beteiligt oder zumindest Regierungen mit solchen Parteien
Bündnisse eingegangen sind. Das gilt für die Niederlande, Dänemark,
einige Länder Osteuropas oder auch Italien und Belgien. Wir dürfen
solche neuen Formen des demagogischen, ultrareaktionären und
faschistoiden Einflusses unter den Massen nicht unterschätzen. Er
spaltet die Arbeiterklasse, lenkt auch gezielt vom Klassenstandpunkt der
Arbeiterklasse ab und schürt nationalistische, religiöse, kulturelle
und antikommunistische Vorbehalte. Er kann durchaus Einfluss unter
Menschen mit geringem Klassenbewusstsein bekommen. Man kann diese
Parteien allerdings nicht genauso bekämpfen wie die offenen Faschisten,
sondern muss hier vor allem die Aufklärungsarbeit verstärken und den
Kampf gegen diese Parteien nutzen, um das Klassenbewusstsein zu heben.
Rote Fahne: Was wird sich durch die Gründung der ICOR für die Arbeit der MLPD durch die Mitgliedschaft in der neuen internationalen Organisation ändern?
Stefan Engel: Mit dem Niedergang der alten kommunistischen Bewegung ausgehend von der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion seit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 hat die Arbeiterbewegung Jahrzehnte der Zersplitterung, der Spaltung und der Leiden erlebt. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden von den verschiedenen revolutionären Organisationen und Parteien viele Anstrengungen unternommen, diesen Niedergang zu überwinden und zu einer schrittweisen Vereinheitlichung der internationalen marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung zu kommen. Mit der Gründung der ICOR als revolutionärer Weltorganisation am 6. Oktober 2010 sind die internationalen revolutionären Kräfte einen bedeutenden Schritt vorangekommen, um die subjektiven Voraussetzungen für den siegreichen weltweiten Befreiungskampf zur Überwindung des imperialistischen Weltsystems und für den Sozialismus beschleunigt herauszubilden. Die MLPD ist erstmals in ihrer Geschichte mit 40 weiteren revolutionären Parteien und Organisationen in einer gemeinsamen und internationalen revolutionären Organisation. Mit der ICOR-Gründung bekommt unsere ganze Arbeit einen neuen Bezugspunkt der Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution in Theorie und Praxis, wozu alle Aufgaben neu durchdacht werden müssen. Das 5. ZK-Plenum kam zum Ergebnis, dass zur Durchsetzung der neuen Qualität des proletarischen Internationalismus eine Neuausrichtung der Kritik-Selbstkritik-Bewegung der MLPD hin zur Partei der Massen erforderlich ist. Diese Neuausrichtung wird wesentliche Leitlinie der Vorbereitung des IX. Parteitags der MLPD 2012 sein.
Rote Fahne: Bei den Dokumenten der ICOR-Gründung fiel auf, dass sich dort auf die Losung vereinheitlicht wurde: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch!" Hatte die MLPD nicht bei ihrer Gründung 1982 die Meinung vertreten, die Losung "Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch!" nicht weiterzuverwenden?
Stefan
Engel: Die Diskussion über die zweckmäßige Losung konnte bei
der Gründungskonferenz der ICOR nicht geführt werden. Deshalb konnte man
sich auf diesen Kompromiss einigen und die Diskussion darüber auf
später verlagern. Alle anwesenden Organisationen sind sich einig, dass
sich die Losung gegen das imperialistische Weltsystem richten und einen
revolutionären Sturz der bestehenden Verhältnisse voranbringen muss.
Insofern war das eine Entscheidung, die auch die MLPD aus ganzem Herzen
mitträgt und die den Stand der bisherigen Diskussion und
Vereinheitlichung richtig zum Ausdruck bringt. Die allgemeine Leitlinie
des proletarischen Internationalismus ist und bleibt die Losung von
Karl Marx: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Zum Zeitpunkt
des Aufkommens des Imperialismus und des Kolonialsystems hat die
Komintern die Bündnislosung "Proletarier aller Länder und unterdrückte
Völker, vereinigt euch!" ergänzt. Es war notwendig, klar zu machen, dass
die Arbeiterklasse im Befreiungskampf der unterdrückten Völker ihren
entscheidenden Bündnispartner in der Vorbereitung der proletarischen
Revolution gegen das imperialistische Weltsystem haben wird. Auch heute
noch gibt es solche unterdrückten Länder und Nationen sowie
fortschrittliche Regierungen in neokolonial abhängigen Ländern, die von
der Arbeiterklasse uneingeschränkt unterstützt werden können. Deshalb
hat die von der Komintern aufgestellte Bündnislosung immer noch eine
bestimmte Berechtigung. Aber nur noch für eine Minderheit der Länder.
Die meisten neokolonial abhängigen Länder haben heute eine ausgeprägte
Klassenscheidung. Ihre Regierungen sind direkte Verbündete der
Imperialisten und aufs Engste mit den imperialistischen Ländern
verbündet. Die imperialistische Bourgeoisie hat in einer Reihe von
neokolonialen Ländern Monopole herausgebildet, die mit den
imperialistischen Ländern zusammenarbeiten. Das gilt insbesondere für
die Länder, die die hauptsächlichen Anlagengebiete für das
internationale Finanzkapital bilden. Hier haben sich sogar
imperialistische Tendenzen herausgebildet, insbesondere in Brasilien,
Indien oder Südkorea. Wir müssen diese Veränderungen genau beachten. Es
ist selbstverständlich, dass es mit den reaktionären Regierungen dieser
Länder keinerlei Bündnis der Arbeiterklasse geben kann. Da ein Volk oder
eine Nation nach marxistisch-leninistischer Definition alle Klassen
umfasst, kann es ein Bündnis der Arbeiterklasse mit den "Völkern"
schlechthin nicht geben.
Das Zentralkomitee ist aber nach wie vor der
Meinung, dass die Arbeiterklasse eine allgemeingültige
Bündnislosung braucht, um zum Ausdruck zu bringen, dass das
Proletariat den Imperialismus nicht alleine bekämpfen und besiegen
kann. Deshalb hat es bei seinem letzten Plenum beschlossen, künftig
zusätzlich zu "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" noch die
Losung "Proletarier aller Länder und Unterdrückte, vereinigt
euch!" aufzunehmen. Die Mehrheit der Menschheit ist
heute auf die eine oder andere Weise unterdrückt. Das betrifft
die Masse der Frauen; das betrifft die diskriminierten Arbeitsmigranten;
das betrifft die über eine Milliarde Hungernden in der Welt; das
betrifft zig Millionen Jugendliche, denen man die Zukunft raubt; das
betrifft die Masse der vor der Umweltzerstörung Flüchtenden, aber auch
der von Imperialismus und faschistischem Terror Unterdrückten. Mit all
diesen "Unterdrückten" muss sich die Arbeiterklasse auf der Grundlage
des Kampfs gegen den Imperialismus zusammenschließen und dabei ihre
führende Rolle zum Ausdruck bringen.
Rote Fahne: Welche gesellschaftliche Rolle bekommt der 100. Internationale Frauentag am 8. März 2011 und die Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen in Venezuela?
Stefan
Engel: Mir klingt noch im Ohr, wie die frühere
Vorzeigerepräsentantin der kleinbürgerlichen Frauenbewegung, Alice
Schwarzer, zum 8. März allen Ernstes forderte, den Internationalen
Frauentag wegen seiner Wurzeln in der sozialistischen Frauenbewegung
abzuschaffen. Diese Forderung ist Ausdruck der Tatsache, dass der
kleinbürgerliche Feminismus längst gesellschaftlich institutionalisiert
wurde, um einer selbstständigen Bewegung zum Kampf für die Befreiung der
Frau das Wasser abzugraben. Sowohl der 8. März 2011 wie die
Vorbereitungen zur Weltfrauenkonferenz signalisieren jedoch ein neues
frauenpolitisches Bewusstsein, das von der revolutionären
Arbeiter- und Volksbewegung allseitig gefördert werden muss.
Die
Probleme der doppelten Ausbeutung und Unterdrückung der Masse der Frauen
sind fester Bestandteil des Mechanismus des imperialistischen
Weltsystems. Eine Befreiung der Arbeiterklasse vom System der Lohnarbeit
ohne die Befreiung der Frau ist undenkbar. Mit der Weltwirtschafts- und
Finanzkrise hat sich die Krise der bürgerlichen Familienordnung
verschärft. Fast alle imperialistischen Länder klagen über einen
massiven Geburtenrückgang, der die ausreichende Produktion und
Reproduktion von Arbeitskräften ernsthaft infrage stellt.
Die
Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen ist zudem ein Projekt der
Internationalisierung kämpferischer Massenbewegungen, die eine Antwort
auf die Neuorganisation der internationalen Produktion bedeuten. Sie
wird auch von der ICOR-Gründungskonferenz ausdrücklich unterstützt.
Dabei geht es weniger darum, dass einige Leute nach Venezuela fahren,
sondern dass der Kampf für die Befreiung der Frau entsprechend den
neueren Gegebenheiten höherentwickelt werden muss. Vor 100 Jahren, als
der Internationale Frauentag ins Leben gerufen wurde, standen das
Wahlrecht für Frauen und die Forderung nach Frauenrechten im
Vordergrund. Heute ist die Aufgabenstellung der internationalen
kämpferischen Frauenbewegung viel umfassender, fundamentaler und
allseitiger geworden. Von der Weltfrauenkonferenz muss also ein Signal
für den Kampf für die Befreiung der Frau für das 21. Jahrhundert
ausgehen! Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Frauen in ihrer
Generalversammlung beschließen, dass die Frauenbewegung künftig weltweit
enger und organisiert zusammenarbeitet.
Die MLPD unterstützt die
Weltfrauenkonferenz von ganzem Herzen. Sie ist allerdings der Meinung,
dass diese Tätigkeit vor allem genutzt werden muss, um der kämpferischen
Frauenbewegung in den einzelnen Ländern einen neuen Impuls zu
verleihen. Es gibt genügend Weltfrauentreffen, die außer Diskussionen
nur wenig bewirken. Diese Weltfrauenkonferenz muss eine nachhaltige
Wirkung hinterlassen. Das ist das entscheidende Kriterium
ihres Erfolgs.
Rote Fahne: Wir sind natürlich sehr neugierig auf den Fortgang des neuen REVOLUTIONÄREN WEG.
Stefan
Engel: Das Zentralkomitee hat in den letzten Monaten
konzentriert an diesem neuen Buch gearbeitet. Fast acht Jahre nach der
Herausgabe der "Götterdämmerung über der 'neuen Weltordnung'" mit der
Analyse der Neuorganisation der internationalen Produktion sind nun die
Schlussfolgerungen ausgereift, die daraus für die
marxistisch-leninistische Strategie und Taktik zu ziehen sind. Diese
dringend benötigte Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen
Strategie und Taktik für die Vorbereitung der internationalen
proletarischen Revolution ist auch in Wechselwirkung mit der
systematischen Zusammenarbeit in der internationalen
marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung gereift. Insbesondere
haben sich die ICOR-Gründung und die Ausarbeitung dieses REVOLUTIONÄREN
WEG eng miteinander durchdrungen und gegenseitig befruchtet.
Bei
allen Unterschieden der Klassenkämpfe in den einzelnen Ländern braucht
das internationale Proletariat im Bündnis mit allen Unterdrückten aber
den gemeinsamen Bezugspunkt der internationalen sozialistischen
Revolution. Die Koordinierung und Revolutionierung des
Klassenkampfs muss die fortschrittlichen, demokratischen und
revolutionären Massenbewegungen sowie -organisationen zu einer
international überlegenen Macht zusammenschließen, um das
imperialistische Weltsystem zu besiegen. Die konkreten ökonomischen,
sozialen und politischen Bedingungen eines jeden Landes müssen in der
jeweiligen proletarischen Strategie und Taktik ebenso berücksichtigt
werden wie der allgemeine Bezug auf die internationale Revolution. So
erscheint die internationale proletarische Strategie und Taktik als ein Konzert
vielfältiger konkreter proletarischer Strategien und Taktiken
der revolutionären Arbeiterparteien in den jeweiligen Ländern. Es ist
absehbar, dass diese Nummer des REVOLUTIONÄREN WEG im neuen Jahr
veröffentlicht werden kann. Er wird die ideologisch-politische Basis für
eine Strategie-Diskussion der ganzen Partei werden und hoffentlich auch
einige Impulse für die internationale marxistisch-leninistische,
revolutionäre und Arbeiterbewegung geben.
Rote Fahne: Willst du am Schluss etwas zum Jahr 2011 sagen?
Stefan
Engel: Ich bin fest davon überzeugt, dass das Jahr 2011 zu
einer weiteren Selbstveränderung der Partei und ihrer Mitglieder führen
wird, die die Attraktion der revolutionären Partei der Arbeiterklasse in
Deutschland – der MLPD – erhöht und ihre Verbindungen zur
internationalen marxistisch-leninistischen und revolutionären
Arbeiterbewegung vertieft. Dazu wird auch die aktive Beteiligung an den
Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt beitragen.
Unsere Genossinnen und
Genossen haben in den letzten Jahren Enormes geleistet. Wer das
komplizierte Jahr 2010 beharrlich gemeistert hat, hat ein hervorragendes
Fundament für 2011. Ich wünsche allen Mitgliedern von MLPD, REBELL und
Rotfüchsen sowie den Lesern der "Roten Fahne" erholsame Feiertage und
uns gemeinsam alles Gute und unverbrüchliche Solidarität für das neue
Jahr!
Rote Fahne: Vielen Dank für das Interview!
(Hier eine pdf-Version
des Interviews zum Ausdrucken oder Herunterladen)