Wahlversprechen schon „Schnee von gestern“?
Rigorose Arbeitsplatzvernichtung, verschärfte Abwälzung der Krisenlasten – Stahlarbeiter, Opelaner, Bergleute … gemeinsam kämpfen!
Im Bundestagswahlkampf wurde die Lage in Deutschland von den Regierungsparteien in den schönsten Farben geschildert: Die Wirtschaftskrise sei überwunden, die Arbeitslosenzahlen im Sinken, der Staatshaushalt gesichert und überhaupt alles im Lot. Auch die parlamentarischen Oppositionsparteien beteiligten sich am Tabu-Wahlkampf, der alle wirklich brisanten Themen tunlichst unter dem Deckel hielt. Jetzt reiben sich die Wähler verwundert die Augen. Stück für Stück tritt wenige Tage nach der Wahl auf den Plan, was monatelang ausgeblendet, abgedämpft und bewusst zurückgehalten wurde.
Neue Welle der Arbeitsplatzvernichtung
Einzelne Konzerne konnten sich schon kurz vor der Wahl kaum noch zurückhalten, ihre Pläne aus dem Sack zu lassen. Danach geht’s Schlag auf Schlag. Siemens will 15.000 Arbeitsplätze weltweit vernichten, davon rund 5.000 in Deutschland. Lanxess und Bayer wollen ebenfalls tausende Stellen streichen. Daimler plant die Fremdvergabe von Teilen der Produktion und versucht, die Belegschaften gegeneinander auszuspielen. Anlagenbauer Voith in Heidenheim will konzernweit 800 Arbeitsplätze streichen und der Belegschaft noch dazu Arbeitszeitverkürzung bei zehn Prozent weniger Lohn verordnen. Opel zog die Stilllegung des Werks 2 in Bochum mit 300 Beschäftigten um drei Monate vor und will das gesamte Bochumer Werk bis Ende 2014 schließen. ThyssenKrupp will mindestens 2.000 weitere Arbeitsplätze vernichten und prüft den Verkauf der gesamten Automotive-Sparte. Salzgitter plant den Abbau von 1.500 Arbeitsplätzen, die Dillinger Hütte will Stellen streichen. Zuletzt gab der finnische Stahlkonzern Outokumpu bekannt, bundesweit 900 Arbeitsplätze vernichten und das Bochumer Werk noch früher als bisher geplant schließen zu wollen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Im September sind auch die offiziellen Arbeitslosenzahlen wieder gestiegen. Laut Bundesagentur für Arbeit waren 61.000 Menschen mehr als vor einem Jahr arbeitslos. Saisonbereinigt ist das auch gegenüber dem Vormonat ein Zuwachs um 25.000.
Krisenhaftigkeit des Kapitalismus vertieft sich
Das wirft ein Schlaglicht darauf, wie wenig die Weltwirtschafts- und Finanzkrise überwunden ist. Vielmehr ist die Industrieproduktion in 22 OECD-Ländern (1) aktuell rückläufig. Der Rückgang konzentriert sich auf Europa. In der gesamten EU sank die Produktion im zweiten Quartal um 1,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, in der Euro-Zone um 0,9 Prozent. In fünf der 13 OECD-Staaten, die zwischenzeitlich den Höchstwert der Industrieproduktion vor Krisenausbruch übertrafen, sinkt sie schon wieder: in Südkorea, Israel, Mexiko, Chile und Österreich.
Diese Entwicklung trifft die Automobil- und Stahlbranche besonders, weil sich hier die erneute Vertiefung der Weltwirtschafts- und Finanzkrise frühzeitig abzeichnet. Die damit verbundene Drosselung der Investitionstätigkeit geht mit einem Rückgang der Stahlaufträge und der Pkw- sowie Lkw-Bestellungen einher.
Auch die EU-Schuldenkrise ist alles andere als im Griff. Die finanzielle Lage Griechenlands – ebenso wie die zahlreicher anderer Länder – ist desolater denn je. Für einen jetzt diskutierten erneuten „Schuldenschnitt“ müssten die Steuerzahler im ganzen Euro-Raum, besonders in Deutschland gerade stehen (siehe S. 13). Die erneut drohende Staatspleite in den USA belegt die Labilität der gesamten wirtschaftlichen und politischen Entwicklung genauso wie die Regierungskrise in Italien.
(1) OECD: UN-Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung