Der „scheinbar systemkonforme“ Schostakowitsch
Lübeck (Korrespondenz): Zum Ende eines Semesters führen die Medizinstudenten des Orchesters der Universität zu Lübeck sinfonische Werke auf, die sie im Semester eingeübt haben. Am liebsten spielen die jungen Freizeitmusiker unter Leitung von Fausto Fungaroli selten aufgeführte oder neue Werke.
Zur Eröffnung ihres diesjährigen Winterkonzertes spielen sie die „Festliche Ouvertüre“ von Dimitri Schostakowitsch (1906 bis 1975) – heute wenig bekannt. Besonders verehrt wurde Schostakowitsch in der Sowjetunion wegen seiner Leningrader Sinfonie. Sie wurde im August 1942 inmitten eines Bombenangriffs der Hitler-Armee in Leningrad uraufgeführt und stärkte die Kampfmoral der Roten Armee und den Lebenswillen der Bevölkerung.
Seine „Festliche Ouvertüre“ war an ihrem 37. Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmet und wurde 1954 in Moskau uraufgeführt. Schon seine 2. Sinfonie „An den Oktober“ hatte der Komponist 1927 zu Ehren der sozialistischen Revolution geschrieben.
Interessiert schaue ich kurz vor Konzertbeginn in das Programmheft und stolpere gleich über die Bemerkung: „Um nicht Opfer der stalinistischen ,Säuberungen‘ zu werden, nutzen viele scheinbar systemkonforme Künstler dieser Zeit ironische Floskeln, groteske Wendungen um Kritik zu üben, zu karikieren.“ „Systemkonform“ klingt nach opportunistischer Anpassung an das sozialistische System, „scheinbar systemkonform“ ist dagegen schon „listige Opposition“. Aber wie kann ein Musiker mehrere Hymnen an die Oktoberrevolution komponieren, wenn er nicht mit vollem Herzen dahinter steht? Der Antikommunismus hat auch dafür eine Erklärung: Aus Angst vor „Säuberung“ hat er sich „systemkonform“ gegeben. Man stelle sich Schostakowitsch vor: Über ein Notenblatt gebeugt – schreibt er um sein Leben, die Schlinge hängt schon über seinem Haupt.