Rote Fahne 09/2020
Überläufer-Film: Was wohl Siegfried Lenz dazu sagen würde?
Am 8. und 10. April lief der Film „Der Überläufer“ in der ARD als „Kriegsdrama nach Siegfried Lenz“. Hört man den Regisseur Florian Gallenberger, dann waren ihm und auch dem Filmleiter, Christian Granderath, das Wichtigste, einen Film „ganz im Sinne von Siegfried Lenz“ zu machen.1 Wollte man das wirklich?
2016, kurz nach dem posthumen Erscheinen des Romans „Der Überläufer“ – Siegfried Lenz war da schon eineinhalb Jahre tot – hatte ich über die wahre Geschichte dieses seit über 60 Jahren unterdrückten Romans eine Enthüllung veröffentlicht.2 Als ich von den Plänen der Verfilmung hörte, wandte ich mich an Florian Gallenberger:
„Sie verfilmen den Roman von Siegfried Lenz ‚Der Überläufer‘. Ich selbst kenne die erste Fassung, das heißt, die tatsächlich erste Fassung, welche im Literaturarchiv in Marbach liegt. Mit dem Verlag Hoffmann und Campe bin ich darüber seit Längerem in einer Kontroverse befindlich, denn was von H&C 2016 sehr werbewirksam als lange verschollen geglaubter Roman herausgegeben wurde, war schon die zweite Fassung. Siegfried Lenz musste sie Ende 1951 in kürzester Zeit verfassen aufgrund der vom Verlagslektor Dr. Görner, einem ehemaligen SS-Mitglied, erfolgten Zensur gegenüber dem ursprünglichen Skript, an dem er zuvor fast das ganze Jahr über gearbeitet hatte. Aber auch das reichte dem Verlag und seinem Lektor damals nicht. Den noch jungen Lenz brachte dies in eine schwere Krise, schließlich ließ er den Roman fallen, kam nie auf den ‚Überläufer‘ zurück. Ihr Film soll, wie zu hören ist, 2020 zum 75. Jahrestag des Kriegsendes ausgestrahlt werden. Ich denke, für Sie als Regisseur könnte die vollständige Geschichte dieses Romans und das eigentliche Anliegen, das Siegfried Lenz damit verfolgte, sicher von Interesse sein. Jedenfalls unterscheidet sich das Lenz-Original von 1951 erheblich von dem, was der Verlag Hoffmann und Campe vor drei Jahren als ‚Der Überläufer‘ veröffentlichte. Für ein Gespräch (inklusive Dokumente) stehe ich gerne zur Verfügung.“3
Eine Antwort erhielt ich nicht. Schon 2016, als ich den Verlag Hoffmann und Campe in Verbindung mit meinen Recherchen aufforderte, auch die erste Fassung zu veröffentlichen, wurde dies ignoriert.
Was ist nun das Resultat?
Erstens existiert ein unveröffentlichter Original-Roman von 1951, der vom Verlagslektor abgelehnt wurde. Bis heute schweigt sich der Verlag darüber aus, was den vollständigen Inhalt dieser zensorischen Auflagen ausmachte. In dem betreffenden Lenz-Text jedenfalls laufen drei deutsche Soldaten freiwillig zur Roten Armee über, um künftig auf deren Seite gegen Hitler zu kämpfen. Unter ihnen die Hauptfigur, Walter Proska, der sich in eine polnische Partisanin verliebt. Nach dem Krieg hilft er mit beim Aufbau in der sowjetisch besetzten Zone, wo seine anfänglichen Überzeugungen jedoch enttäuscht werden. Er flieht in die westlichen Zonen, landet in Hamburg, sieht sich dort aber ebenfalls mit Verhältnissen konfrontiert, denen er kritisch gegenübersteht.
Zweitens existiert eine zensierte Fassung von 1952, damals vom Lektor erneut abgelehnt, in der Folge von Siegfried Lenz persönlich zurückgezogen. 2016 wird genau das dann als „Sensation“ veröffentlicht. In dieser Version wird Walter Proska von den verantwortlichen Offizieren der Roten Armee zum Überlaufen gezwungen, ansonsten würde er umgehend exekutiert. Außerdem wird ein anderer Soldat, der in der ersten Fassung zusammen mit ihm die Fronten wechselte, zu seinem Gegenspieler aufgebaut – als bis zum Ende des Krieges treuer Wehrmachtsoldat. Die Zustände in der Sowjetzone werden darüber hinaus extrem verdüstert dargestellt und antikommunistisch verfremdet – entgegen einer kritisch-realistischen, aber im Ganzen gesehen auch fair bleibenden Darstellung im Original.
Drittens existiert nun der Film, der im ersten Teil den Zwang zum Überlaufen unter Todesdrohung einfach übernimmt, und dies sogar dahingehend steigert, als hätte sich Proska auf Seiten der Roten Armee an Kriegsverbrechen beteiligt. Ferner läuft im zweiten Teil eine Fortsetzung der Liebesgeschichte mit der Partisanin – ein Klischee, das Siegfried Lenz nie eingefallen war. Vor allem aber scheint es Proska plötzlich darum zu gehen, einem faschistischen Militär, unter dem er ehedem selbst diente und zu leiden hatte, vor der Verfolgung zu retten und in den Westen zu schleusen. Auch das eine reine Improvisation, da die betreffende Figur weder in der Fassung von 1952/2016, geschweige denn in der Originalfassung im zweiten Teil überhaupt nochmal auftaucht.
Im Interview legt der Regisseur schlussendlich offen, was ihn an der Geschichte am meisten interessiert hätte: Demnach sei Walter Proska ein „doppelter Überläufer“ gewesen.4 Erst lief er von den Faschisten über zu den Kommunisten, dann in Richtung der späteren Bundesrepublik. 75 Jahre nach Kriegsende soll dies wohl auch die zentrale Botschaft sein: Zuerst werden – wohlgemerkt unter Bruch der ureigenen Autor-Idee – Nazi-Diktatur und sozialistische Sowjetunion gleichgesetzt, dann der „freie“ Westen als Alternative geboten.
Sicherlich dürfen Literatur-Verfilmungen einen eigenen künstlerischen Anspruch verwirklichen, hier aber ist die Grenze zur politisch motivierten Manipulation weit überschritten. Viele der mehrere Millionen zählenden Zuschauer, die die Vorgeschichte nicht kennen, glauben ja, mit dem Film eben das zu sehen, was Siegfried Lenz seinerzeit schrieb. Dem ist mitnichten so, auch wenn eine der größten bürgerlichen Zeitungen keinerlei Hemmung hat, den Film gar mit dem Prädikat „erstaunlich texttreu und deshalb sehenswert“ auszuzeichnen.5