Rote Fahne 14/2020
VW Hannover: Zurück zur „Normalität“?
Zum Wiederbeginn der Produktion wurden in den Automobilbetrieben mehr oder weniger umfassende Maßnahmen zum Schutz gegen die Corona-Pandemie getroffen – auch aufgrund von Protesten vor der zeitweiligen Schließung. Ein Korrespondent berichtet, wie das im betrieblichen Alltag bei VW in Hannover umgesetzt wird
Das ist sie also, die „neue Normalität“. Stückzahl wie früher. 347 Autos pro Schicht. 72-Sekunden-Takt. Meister rufen Kollegen der Risikogruppen zu Hause an, um sie zur „freiwilligen“ Arbeit zu drängen. Auch die bezahlten fünf Minuten Händewaschen will VW schon wieder streichen.
Neu ist das Drumherum: Abstandsmarkierungen, geschlossene Waschkauen, jedes zweite Pinkelbecken gesperrt sowie Corona-Hinweisschilder, wohin das Auge reicht. Höchstzahl der Personen für jeden Raum, für Pausenräume meist sieben Kollegen. Jetzt, wo alle wieder da sind, reicht das nicht. Deshalb vereinzelte Tische überall zwischen Pfeilern und Kisten zum Pausenplatz umfunktioniert. Und natürlich Atemmasken, die alle tragen müssen, die die 1,5 Meter Abstand nicht einhalten können. Bei geringerer Stückzahl konnte man Kontakt noch gut vermeiden, weil das Personal aufgestockt war und wir im Takt etwas nach vorne oder hinten schwimmen konnten. Mein Kollege: „Acht Stunden mit der Maske geht gar nicht. Und das bei der Hitze.“ Da fällt das Atmen schwer. Noch dazu, wo es keine Hallenbelüftung gibt. Das führt dazu, dass höchstens noch 50 Prozent der Kollegen Abstände einhalten und Masken tragen. Deshalb brauchen wir unbedingt mehr Pausen, und die Bandgeschwindigkeit muss gedrosselt werden.
Die Widersprüchlichkeit zwischen den Hygienebestimmungen und der Schwierigkeit, sie konsequent einzuhalten, führt dazu, dass immer häufiger Kolleginnen und Kollegen die Gefahr des Coronavirus unterschätzen. Dazu tragen auch Verschwörungstheorien bei – wie die, dass Corona auch nicht schlimmer sei als eine normale Grippe. Ich entgegne: Noch weiß man zu wenig von dem Virus, und wann und ob es einen Impfstoff gibt, ist noch völlig offen. Ein anderer Kollege hält Corona für unbedeutend, weil auch so täglich 8000 Kinder auf der Welt sterben. Ich sage ihm: Die notwendige Kritik an der Kindersterblichkeit und ihren häufigen Ursachen im Kapitalismus kann man doch nicht gegen die notwendigen Gesundheitsmaßnahmen zum Schutz vor Corona ausspielen.
Das Aufblühen solcher Verschwörungstheorien just zu dieser Zeit ist kein Zufall. Sie dienen auch als Begleitmusik für das schnelle Hochfahren der Produktion. Analog zur Verharmlosung von Corona hob VW ab dem 8. Juni zum Beispiel die sinnvolle Schichtentkopplung wieder auf. Völlig unnötig kommen Tausende Kontakte zustande, nur damit die Schicht wieder volle acht Stunden läuft statt siebeneinhalb!
Was zur „neuen Normalität“ allerdings auch gehört, ist wachsende Kritik an Großkonzernen und ihrer Profitgier. Kaum einer steht mehr hinter dieser VW-Politik. Treffend mein Kollege: „Die haben den ganzen Zirkus vom Gesundheitsschutz nur gemacht, damit sie überhaupt wieder anfahren konnten. Es ist auch eine Reaktion auf unsere Kritik an den völlig unzureichenden Schutzmaßnahmen zu Beginn der Pandemie. Jetzt ist wieder alles egal. Von wegen Entlastung für das Maskentragen oder Abstand halten.“ Und ein anderer sagt, was viele empfinden: „Man hat ständig das Gefühl, von VW hintergangen zu werden.“