Rote Fahne 18/2020
Spannende Podiumsdiskussion: „Lenin, ein rotes Tuch?“
„Hart, aber fair“ war am 22. August bei der streitbaren Podiumsdiskussion „Lenin, ein rotes Tuch?“ das Leitmotiv der Veranstalter
Etwa 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zählte die Veranstaltung, die auf Initiative des Kommunalwahlbündnisses AUF Gelsenkirchen im Kultursaal „Horster Mitte“ in Gelsenkirchen unter strikten Corona-Auflagen für alle Anwesenden organisiert worden war. Darunter waren auffallend viele junge Menschen. Der Moderator und Stadtverordnete des Wahlbündnisses AUF Gelsenkirchen, Jan Specht, konnte Gerd Koenen, Autor der Ausstellung „Der Kommunismus in seinem Zeitalter“, Stefan Engel, Mitinitiator der Bewegung „Gib Antikommunismus keine Chance!“, und Dieter Klauth, Geschichtsredakteur des Magazins Rote Fahne, begrüßen. Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte hatte für die Stadt Gelsenkirchen schriftlich abgesagt. Die Veranstaltung läge zu nahe am Kommunalwahlkampf …
Gerd Koenen betonte in seinem Eingangsstatement, dass es für ihn zu einer demokratischen Kultur dazugehört, sich demokratisch auszutauschen. Inhaltlich präsentierte er als – wie er selbst von sich sagt – „linker Antikommunist“ seine Lenin grundsätzlich ablehnenden Standpunkte. Lenin hätte den I. Weltkrieg mit all seinen Verwerfungen begrüßt, um so den revolutionären Prozess zu beschleunigen. Er wäre ein „Putschist“ gewesen. Statt 1918 dem Frieden von Brest-Litowsk zuzustimmen, hätte man den Krieg gegen Deutschland weiterführen sollen. Lenin unterstellte er „imperiale Motive“. Stefan Engel formulierte in sieben Thesen seine Kritiken an den Methoden des Antikommunismus, wie die geschickte Mischung aus Wahrheiten, Halbheiten und Lügen. Oder auch die Methode, „Beweise“ für angebliche kommunistische Gräueltaten aus dem Zusammenhang zu reißen oder Zitate ohne historischen Zusammenhang darzustellen. Sein Beitrag ist, wie der von Dieter Klauth, im Volltext auf der Homepage der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG abrufbar.
Dieter Klauth kritisierte Koenens These von dem angeblich durch Lenin entfesselten Bürgerkrieg. Konsens bestand auf dem Podium, dass die Oktoberrevolution eine der unblutigsten Revolutionen der Geschichte war. Doch dann wurde der reaktionäre weiße Terror „entfesselt“. Allein bei Judenpogromen wurden 150 000 Menschen umgebracht. 14 kapitalistische Länder intervenierten im jungen Sowjetrussland. Dass sich das sozialistische Land dagegen unter Lenins Führung und unter Aufbietung aller Kräfte erfolgreich wehrte, ist auch durch das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht gedeckt.
Nach einer Diskussionsrunde auf dem Podium und einer Pause ging es gemeinsam mit dem Publikum streitbar weiter. Ein Arbeiter führte aus: „Sie, Herr Koenen, sagen, die international unterschiedlichen Gesellschaften könne man deshalb nicht als Kapitalismus bezeichnen. Dann gehen Sie mit einem Industriearbeiter in Indien im GM-Werk arbeiten oder machen das in Sankt Petersburg oder in Brasilien … Überall treffen sie auf den Kapitalismus. Aus der Vielfalt von Erscheinungsformen zu schließen, es gebe keinen Kapitalismus, das ist typisch positivistisch.“ Auf vielfältige Kritik stieß die provokante These Koenens, dass die Bewegung „Gib Antikommunismus keine Chance!“ „peinlich“ wäre und der Antikommunismus heute keine besondere Rolle spielen würde.
Monika Gärtner-Engel wandte sich an Herrn Koenen: „Sie hatten sinngemäß geschrieben, sie möchten sich nicht in die kommunalpolitischen Scharmützel einmischen. Sie sind aber mittendrin in diesen Scharmützeln, um nicht zu sagen, vornedran. In den 20 Jahren, in denen ich im Stadtrat war, habe ich keine Sitzung erlebt, in der ich nicht antikommunistisch attackiert wurde. Die AfD oder die offenen Faschisten wurden unter der Leitlinie, sie ‚nicht aufzuwerten‘, in Ruhe gelassen. Dass die AfD in Gelsenkirchen so stark geworden ist, hat wesentlich mit diesem Antikommunismus zu tun.“
Gabi Fechtner, Parteivorsitzende der MLPD, kritisierte die Methode Koenens, positiv besetzte Begriffe zu verwenden und ihres eigentlichen Inhalts zu berauben: „Sie sagen, sie verteidigen den Kommunismus. Uns dagegen sprechen sie das Recht ab, uns auf den Kommunismus zu beziehen. Sie werfen uns vor, dass wir die Klassenkämpfe unterstützen und uns in diesen harten Klassenkämpfen auf Seiten der Unterdrückten, der Arbeiterklasse positionieren. Deshalb hätten wir nicht das Recht, im Namen des Kommunismus zu sprechen. Das entkleidet den Kommunismus seines Inhalts. Wenn man für den Kommunismus eintritt, dann muss man auch den Klassenkampf, mit dem er erkämpft werden muss, verteidigen und unterstützen.“
Stefan Engel entgegnete Koenen: „Sie sagen, dass Lenin in einer Minderheitenposition war und deshalb bei der Oktoberrevolution einen Putsch machen musste. Lenins revolutionäre Ansichten waren vor dem I. Weltkrieg die Mehrheitsmeinung der II. Internationale, als die Sozialdemokratie noch revolutionär war. Als die SPD dann die Farbe gewechselt und den Kriegskrediten zugestimmt hatte, da wurde von oben jede demokratische Diskussion an der Basis unterdrückt. Das lief putschartig ab. Die Oktoberrevolution war kein Putsch, sie hat stattgefunden, nachdem die Bolschewiki die Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenräte erobert hatten.“
Manche Beiträge von Koenen waren starker Tobak, so wenn er die Diskussion als Beleg für die „Sektenartigkeit“ der MLPD heranzog. Oder wenn er sich herablassend über das „rührende“ und „vereinfachende“ Weltbild aller Diskutierenden lustig machen wollte. Parteilose Veranstaltungsteilnehmer kritisierten, wie er alle im Saal in einen Topf angeblicher MLPD-Mitglieder warf. „Ein kluges Wort, schon ist man (bei Koenen) Kommunist“, meinte einer von ihnen später.
Aber die Diskussion war wertvoll, schärfte die unterschiedlichen Argumente und machte sehr grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen deutlich. Am Ende war man sich in einem Fazit Koenens einig: Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig
sind …