Rote Fahne 22/2020
Verschärfte Angriffe in den Betrieben und sich entwickelnde Kämpfe – wie kommt die Arbeiterklasse in die Offensive?
Angst vor roten Fahnen ...
... hat der desiginierte Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und bisherige Gesamtmetall-Chef Rainer Dulger. Er behauptet im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 14. Oktober: Es sei in der Metall- und Elektroindustrie mit Protesten in diesem Jahr nicht zu rechnen und es gäbe niemanden, „der mit der roten Fahne herumläuft“.
Immerhin gibt er uns einen Einblick in die Albträume eines Kapitalistenführers. Nur ist bei seiner Vorstellung einer kampflosen Zeit der Wunsch der Vater des Gedankens. Tatsächlich waren lange nicht mehr so viele Metaller mit IG-Metall-Fahnen (die ja auch hauptsächlich rot sind ...) und kämpferischen Transparenten auf den Straßen wie seit Anfang Oktober. Über 4000 Daimler-Beschäftigte waren es allein am 8. Oktober. 17 000 Kolleginnen und Kollegen aus 150 Betrieben beteiligten sich an der IG-Metall-Aktionswoche in Bayern vom 12. bis 16. Oktober, 3000 waren es am Stahlaktionstag in Düsseldorf am 16. Oktober. Trotz der Corona-Pandemie nehmen gewerkschaftliche Kämpfe und selbständige Initiativen deutlich zu.
Unter dem Eindruck von Corona und der politisch motivierten Einschränkung des Versammlungsrechts durch die Bundesregierung ging die Beteiligung an Arbeiterkämpfen von 11 500 im Februar bis April 2020 zunächst auf 520 zurück. Der 1. Mai 2020 stand hier für eine Trendwende. An über 80 Orten führten kämpferischen Gewerkschafter mit dem Aktivposten MLPD Versammlungen auf der Straße durch, obwohl die DGB-Führung das alles abgesagt hatte. Seitdem wuchs die Beteiligung an Arbeiterprotesten allmählich und zuletzt wieder sprunghaft an. Weit über 50 000 Beteiligte waren es im September und rund 80 000 allein in der ersten Oktoberhälfte. Die Arbeiter und Angestellten werden zunehmend aktiv gegen die verschärfte Abwälzung der Krisenlasten auf sie, ihre Familien und die natürliche Umwelt. Der fortschrittliche Stimmungsumschwung belebt sich erneut mit der führenden Rolle der Arbeiterklasse, nachdem er angesichts der Corona-Krise eine zeitlang überlagert wurde.
Möglicherweise ist Rainer Dulgers Blackout darauf zurückzuführen, dass er die offizielle tarifliche Friedenspflicht in der Metallindustrie bis zum 29.1.2021 mit kampfloser Zeit verwechselt. Zu seinem Leidwesen lassen sich die Metaller immer weniger in dieses Korsett zwängen. Denn im Oktober beteiligten sich nicht nur Zehntausende an ver.di-Warnstreiks, sondern auch über 22 000 Arbeiter aus dem Kern des Industrieproletariats an kämpferischen gewerkschaftlichen Kundgebungen und Demonstrationen, verbunden mit oft mehrstündigen Streiks. Der Schwerpunkt hier liegt klar in der Metall und besonders der Autoindustrie, sowie in der Stahlindustrie.
Dass Dulger ausdrücklich vor „roten Fahnen“ Panik hat – die für die revolutionäre Arbeiterbewegung stehen – bezieht sich vor allem auf den Geist der Arbeiteroffensive, wofür in dieser Krisenzeit das Potenzial eindeutig wächst.
Auch der Gesamtbetriebsrat von Daimler warnte in einem Flugblatt davor, nicht auf „kleine Gruppierungen“ hereinzufallen, die aus den Arbeiterprotesten „politisches Kapital zu schlagen“ versuchten. Gemeint war auch hier unzweifelhaft die MLPD. Abgesehen davon, dass das mit dem „Kapital“ bei der MLPD nun wirklich fehl am Platz ist … hat sie jahrzehntelang bewiesen, dass sie selbstlos den Kampf der Arbeiterklasse unterstützt. Schon Karl Marx wies im „Manifest der Kommunistischen Partei“ darauf hin, dass die Kommunisten „keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen“ haben, sondern „der entschiedenste, immer weitertreibende Teil“ der Arbeiter sind. Es ist der Antikommunismus, der sich gegen die Interessen des gesamten Proletariats richtet, der es spaltet, schwächt und zersetzt. Es ist wichtig, die Auseinandersetzung mit dem Antikommunismus jetzt zu führen, denn ohne Attacke auf den Antikommunismus können auch die heute notwendigen Kämpfe nicht erfolgreich geführt werden.
Auf harte Klassenauseinandersetzungen einstellen
Rainer Dulger lehnt in diesem Interview auch provokativ jegliche Arbeitszeitverkürzung mit vollem oder auch nur Teillohnausgleich sowie Lohnerhöhungen ab: „Lohnerhöhungen sind weder dieses noch nächstes Jahr realistisch.“1 Er begründet das unter anderem damit, dass die Löhne in der Metall- und Elektroindustrie in den letzten zehn Jahren um über 30 Prozent gestiegen seien, die Produktivität aber nur um drei Prozent. Bei seiner Milchmädchenrechnung geht er jedoch von der Entwicklung der Nominallöhne aus. Die Reallöhne der Industriebeschäftigten in Deutschland stiegen – unter Berücksichtigung der Preissteigerung – in dieser Zeit nur um 11 Prozent, also um gerade mal 1,1 Prozent im Jahr. Und der Umsatz pro Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie stieg in dieser Zeit um 34,5 Prozent – nach den Zahlen von Gesamtmetall! 2 Er liegt heute bei 289 364. Da ist selbst nach Dulgers Logik mehr als genug „Spielraum“ für deutliche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
Rote Fahne News enthüllte am 23. September eine „Kriegserklärung“ des Vorstands gegen die Arbeiter. Manche reagierten abwartend: „Es wird doch nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ Die bürgerlichen Medien hüllten den Mantel des Schweigens über die Daimler-Pläne, der Vorstand schwieg, die Betriebsratsspitze schwieg. Am 6. Oktober verkündete dann der Daimler-Vorstand seine „neue Strategie“. Alles wird jetzt bei Daimler radikal dem Ziel einer möglichst zweistelligen Umsatzrendite untergeordnet. Bis zu 30 000 Arbeitsplätze 3 sollen vernichtet, ganze Motorenwerke geschlossen werden. Geplant sind die Kürzung von Leistungen, das erneute Hochtreiben der Leiharbeiterquote, weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit. Kurz: die Ausbeutung wird auf die Spitze getrieben.
Das Vorgehen des Daimler-Vorstandes ist kein Einzelfall und ist offensichtlich auch mit anderen Übermonopolen bis hinein in die Unternehmerverbände abgestimmt. Auch Zulieferkonzern Conti will ganze Werke schließen, wie das in Aachen mit 1800 Beschäftigten. Hier wird eine Taktikänderung der Monopole gegenüber dem Kern des internationalen Industrieproletariats eingeleitet.
Die Segnung des „asymmetrischen V“
Alles letztlich doch nur Theaterdonner? Davon sollte man nicht ausgehen! Bisher wurden die Krisenlasten in Deutschland noch mehr versteckt auf die Werktätigen abgewälzt, verbunden mit verschiedenen Zugeständnissen und Dämpfungsmaßnahmen wie der Ausweitung der Kurzarbeit. Seit Jahresbeginn haben die Konzerne in Deutschland die Vernichtung von rund 277 000 Arbeitsplätzen öffentlich angekündigt, bereits 613 000 Menschen mehr waren im September gegenüber dem Vorjahresmonat arbeitslos.
Jetzt kündigt sich eine deutliche Verschärfung an, die einen tieferen Hintergrund hat: Regierung und Monopole glaubten selbst, dass nach dem abrupten Wirtschaftseinbruch im zweiten Quartal die Wirtschaft schnell wieder hochfahren würde. Aus dem erwarteten „V“-Aufschwung wurde nichts – die Industrieproduktion in Deutschland und den meisten imperialistischen Ländern liegt heute um 10 Prozent unter dem Vorkrisenstand.
Doch das sogenannte „V“ ist ein ehernes Dogma für viele bürgerliche Ökonomen. Jetzt wird schon von einem „verzerrten V“ oder auch einem „asymmetrischen V“ fabuliert . Auf Deutsch heißt das, dass es einen tiefen Einbruch gab, aber keine schnelle Erholung – also das Gegenteil vom prophezeiten „V“. Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Als Schüler könnte man sagen, wenn man fälschlicherweise ein Wort mit „N“ statt mit „M“ geschrieben hat, das sei schon richtig, es sei eben ein asymmetrisches „M“… Und auf Grundlage solcher Prognosen sollen die Arbeiter und Angestellten hoffen, dass es doch nicht so schlimm käme? Das zeigt nur, dass die bürgerliche politische Ökonomie Kaffeesatzleserei ist.
Tatsächlich vertieft sich die Weltwirtschafts- und Finanzkrise. Die Corona-Krise in Deutschland verläuft bereits wieder unkontrolliert, was negativ auf die Wirtschaft zurückschlagen wird (siehe Hintergrundartikel auf Seite 22/23). Besonders in der Autoindustrie durchdringt sich das mit den Strukturkrisen im Zuge des Übergangs zur E-Mobilität und der forcierten Digitalisierung. Das bürgerliche Krisenmanagement von Merkel und Co. ist in der Krise. Mit der Vertiefung der Krise und ihrem längeren Verlauf werden auch die Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Krisen offener durchschlagen: Wir haben über vier Millionen Kurzarbeiter – irgendwann laufen die erweiterten Kurzarbeiterregelungen aus. Hunderttausende Betriebe werden durch befristete Sonderregelungen NOCH vor der Insolvenz geschützt.
Neue Konzernstrategien im Kampf um eine weltmarktbeherrschende Stellung
Die „neue Strategie“ von Daimler folgt genauso wie der Umbau des Thyssenkrupp-Konzerns dem modifizierten ökonomischen Grundgesetz des Kapitalismus auf der Stufe der Neuorganisation der internationalen Produktion. Dazu schälte die MLPD bereits 2001 heraus: „War vorher für die Monopole die Maximalprofit bringende Produktion oberste Maxime, so reicht das für die internationalen Übermonopole nicht mehr. Für sie ist nur noch die Produktion interessant, die in ihrer Branche eine weltmarktbeherrschende Rolle spielen kann. Nur auf dieser Grundlage ist es noch denkbar, Monopolpreise zu diktieren, und das bleibt der entscheidende Faktor für die Erzielung von Maximalprofiten.“ 4
Deshalb stoßen Automonopole perspektivisch alles ab, was sie für den Kampf um die führende Stellung auf dem Zukunftsmarkt der E-Mobilität nicht mehr brauchen. Deshalb plant Thyssenkrupp, sich sogar von seiner „Ursprungsmarke“ Stahlproduktion zu trennen. Der Konkurrenzkampf mutiert dabei zunehmend zur gegenseitigen Vernichtungsschlacht. Die bürgerlichen Nationalstaaten greifen dabei massiv ein, auch aus machtpolitischen Gründen. So will der deutsche Imperialismus unbedingt den halbmilitärischen Airbus-Konzern erhalten und stärken, wofür er Milliarden-Beteiligungen erwarb.
Bei solch tiefgreifenden Umstrukturierungen sind auch bisherige Zugeständnisse und Gepflogenheiten im Rahmen der Klassenzusammenarbeitspolitik im Weg. Damit entpuppen sich auch früher abgeschlossene sogenannte „Zukunftsverträge“ offen als Betrug. MAN Trucks & Bus verkündete die Vernichtung von 9500 Arbeitsplätzen gleichzeitig mit der Kündigung des vertraglich zugesicherten Versprechen, bis 2030 auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten.
Es gibt im Kapitalismus keine sichere Zukunft für die Massen – weder sichere Arbeitsplätze, noch eine gesunde Umwelt, dauerhaften Frieden oder ähnliches. Das gilt erst Recht heute, wo die Krisen wie Seuchen um sich greifen: Wirtschaftskrisen, Corona-Krise, Umweltkrise, Flüchtlingskrise. Angesichts der beschleunigten Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise des imperialistischen Weltsystems ist es an der Zeit für eine große Debatte über gesellschaftliche Alternativen.
Zeit für grundsätzliche Gedanken über die gesellschaftliche Zukunft
In dieser tiefsten Weltwirtschafts- und Finanzkrise des Kapitalismus darf man nicht auf Denkmuster zurückgreifen, wie die Herrschenden vielleicht früher Krisen zeitweilig bewältigt haben. Es bewahrheitet sich, was Karl Marx untersuchte: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ Aber schon das Wort Krise hat mehrere Bedeutungen: „Bedenkliche Lage, Zuspitzung, Entscheidung, Wendepunkt“ – aus dem griechischen abgeleitet. Und in chinesischer Sprache steht Krise für die Dialektik von „Gefahr und Chance“. Auch die gegenwärtige Krise birgt eine große Herausforderung und Chance: Sich neu zu orientieren, sich von Bindungen an den Kapitalismus freizumachen und den Kampf für eine sozialistische Zukunft aufzunehmen. Eine Gesellschaft, in der die Interessen der arbeitenden Menschen im Mittelpunkt stehen, in der Krisen der Vergangenheit angehören, weil sich nicht mehr alles um die heilige Kuh des Maximalprofits dreht – und in der die Arbeiterklasse die Macht errungen hat.
Statt Standortspaltung – konzernweit gemeinsam kämpfen!
Während die Konzerne die Standortkonkurrenz auf die Spitze treiben, haben Düsseldorfer Daimler-Kollegen auf einer Pausenversammlung eine Erklärung verabschiedet, in der es heißt: „Ihr aus Untertürkheim geht dem Protest voran - Hut ab davor! Jetzt sollten wir auch in Düsseldorf kämpfen und in allen anderen Werken! Wir lassen uns nicht spalten in Stamm- und Leiharbeiter, sondern kämpfen gemeinsam um jeden Arbeitsplatz.“
Für Arbeitsplätze UND Umweltschutz!
Bei Daimler tritt die faschistoide Betriebsratsliste „Zentrum“ offen gegen den Kampf gegen Daimler auf. Sie erzählt, man müsse „den Verbrenner“ vor den Umweltschutzplänen retten. Dabei will Daimler gar nicht die Umwelt schützen. Der Konzern setzt auf hochpreisige Fahrzeuge, die auch mit E-Motor angesichts großteils fossiler Stromproduktion besonders umweltzerstörend sind. Die Arbeiter kämpfen für ihre Arbeitsplätze und sind nicht verantwortlich für das, was die Konzerne produzieren! Sie haben aber eine Verantwortung, sich im Kampf zur Rettung der Umwelt an die Spitze zu stellen.
Wer soll den Kampf in die Hand nehmen?
Das wird niemand tun, wenn es die Arbeiter nicht selbst machen – mit jedweder Unterstützung der MLPD. Dazu muss man sich selbst mehr zutrauen, mehr Verantwortung übernehmen, sich kundig machen, bilden, sich organisieren! Wie heißt es in einer Erklärung der Nachtschicht von Mettingen: „Wir müssen den Weg des Streiks gehen, um Untertürkheim als Produktionswerk zu verteidigen. Wir werden dafür arbeiten.“