Rote Fahne 23/2020
Eis der Antarktis mit dem Pariser Klimaabkommen nicht zu retten
Am 24. September, einen Tag vor dem weltweiten Klimastreiktag der „Fridays for Future“-Bewegung, erschien in der Wissenschaftszeitschrift „Nature“ der Artikel „Die Hysterese des antarktischen Eisschilds“ als Titelgeschichte
Ein Wissenschaftler-Team1 hat ein Modell des Eises, das den gesamten antarktischen Kontinent bedeckt, einschließlich des damit zusammenhängenden, auf dem Meer schwimmenden Schelfeises auf einem Supercomputer berechnet 2. Den Begriff der „Hysterese“ verwenden die Autoren für den Vorgang, dass bei bestimmten Temperaturen jeweils ein sprunghafter, unaufhaltsamer Eisverlust eintritt, der erst bei sehr viel tieferen Temperaturen wieder rückgängig gemacht werden kann. Verantwortlich dafür sind zwei hauptsächliche Kipppunkte im System des antarktischen Eisschilds. Kipppunkte sind Punkte, an denen eine bis dahin allmähliche quantitative Zunahme bestimmter Faktoren in qualitative Sprünge umschlägt.
Zwischen 1,0 und 2,5 Grad Celsius Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau werden weite Teile des westantarktischen Eises nach diesen Berechnungen instabil. Dies wird als Meer-Eis-Instabilität bezeichnet und ist an die besondere Bedingung gebunden, dass die in den südlichen Ozean hineinragenden Gletscherzungen dort auf einem zum Land hin abfallenden Felsenbett aufsetzen, wie es die schematische Zeichnung zeigt. Hat die sich zurückziehende Aufsetzlinie des Eisschilds einmal den Bereich des abfallenden Felsenbetts erreicht, so wächst mit dem Rückzug die Höhe des Eises darüber und damit der Druck an der Basis. Das Eis fließt dadurch immer schneller ins Meer. Außerdem wächst gleichzeitig auch die Kontaktfläche mit dem bis zu 1,8 Grad Celsius warmen Tiefenwasser, sodass mehr Eis an der Basis schmilzt. Mehr als zwei Meter Meeresspiegelanstieg werden dadurch ausgelöst.
Die Modellrechnung zeigt, dass der heutige Zustand des Eisschilds erst bei Temperaturen wiederhergestellt werden kann, die 5 Grad kälter sind als heute. Solche Temperaturen herrschten zuletzt während der letzten Eiszeit.
Der zweite Kipppunkt tritt nach der Studie zwischen 6 und 9 Grad Celsius Erwärmung auf. Die Temperatur der Atmosphäre nimmt mit der Höhe je 150 Meter um etwa ein Grad ab. Werden die Gletscher dünner, so wird es dadurch an ihrer Oberfläche – wie bei einem ins Tal hinabsteigenden Bergsteiger – immer wärmer und sie schmelzen noch schneller ab. Das führt ab dem Kipppunkt dazu, dass der Prozess auch für große Teile der Ostantarktis unumkehrbar wird. Etwa 40 Meter Meeresspiegelanstieg werden dann unausweichlich.
Im Gespräch mit der Presse sagte Leitautorin Ricarda Winkelmann3: „Unsere Studie ist … ein … Ausrufezeichen hinter das Abkommen von Paris. Wir müssen die globale Erwärmung unter zwei Grad halten.“ Die unkritische Orientierung auf das völlig unzureichende Pariser Abkommen widerspricht aber dem eigentlichen Anliegen der Wissenschaftler, die Weltöffentlichkeit zu alarmieren. Das unverbindliche Pariser Abkommen sieht als Ziel die Begrenzung der Erderwärmung auf höchstens 2 Grad, möglichst 1,5 Grad Celsius vor. Nach der Studie kann man nicht absolut voraussagen, bei welchem Temperaturanstieg der erste Kipppunkt erreicht wird – die Schwankungsbreite liegt zwischen 1 und 2,5 Grad. Mit den Pariser Zielen ist es nach dieser Rechnung nur wahrscheinlich, dass er überschritten wird, nicht absolut sicher. An einen solch unsicheren Strohhalm kann man sich doch nicht seriös klammern. Es gilt, den aktiven Widerstand für drastische Sofortmaßnahmen zu fördern. Während die Forscher an die Untersuchung der Eisdynamik durchaus dialektisch herangingen, sind sie nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Schlussfolgerungen ebenso wissenschaftlich zu ziehen. Dazu müssten sie sich dafür öffnen, über den Kapitalismus hinauszudenken.